Im Schnitt treten in Österreich 50 spürbare Erdbeben pro Jahr auf. Die Seismologie vermisst diese akribisch, stößt dabei aber auch auf Hindernisse. Um Messungen zu bereinigen, ist trotz modernster Technik immer noch menschliche Feinarbeit notwendig.
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In der Nacht von Donnerstag auf Freitag riss ein Erdbeben im Raum Gloggnitz im niederösterreichischen Bezirk Neunkirchen etliche Menschen aus dem Schlaf. Um 22.26 Uhr erschütterte das Beben der Magnitude 4,2 die Region, um 23.11 Uhr kam es zu einem Nachbeben mit einer Stärke von 2,2 auf der Richterskala. Das Epizentrum lag laut neuen Berechnungen von Geosphere Austria einen Kilometer von Gloggnitz und zwölf Kilometer von Neunkirchen entfernt. Die Erschütterungen waren bis an die tschechische Grenze zu spüren. Aus dem Epizentralbereich sind bereits mehr als hundert Meldungen über leichte Schäden eingelangt, typischerweise Haarrisse im Verputz.

Interessant ist, dass vor exakt zwei Jahren am 30. März 2021 ein Erdstoß der Magnitude 4,6 den Raum Neunkirchen erschüttert hat. Dieses Ereignis wurde letztlich als das stärkste Erdbeben der vergangenen 20 Jahre im Wiener Becken klassifiziert. Die auffällige Aktivität in diesem Gebiet hatte sogar Auswirkungen auf den Bau des Semmering-Basistunnels. Eine geologische Störzone im Grassberg beim Vortrieb in Gloggnitz machte eine Verlängerung der Bauzeit schon 2022 unausweichlich.

Österreichs Beben-Hotspot

Stellt die Region also einen österreichischen Erdbeben-Hotspot dar, und ist nach den aktuellen Erschütterungen mit weiteren Erdstößen zu rechnen? Anton Vogelmann, Seismologe bei Geosphere Austria, erklärt die Sachlage folgendermaßen: Das südliche Wiener Becken gehört zu den Gebieten mit der höchsten Bebenbelastung in Österreich. Die Ursache liege darin, dass sich das südliche Wiener Becken seit Millionen von Jahren ausweitet. Der südöstliche Krustenteil wird nach Nordosten weggeschoben.

Dadurch sinkt im Wiener Becken die Erdkruste langsam ab. An den Rändern des Beckens erzeugt dieses Absacken enorme Spannungen. Von Zeit zu Zeit hält die Erdkruste diese Spannungen nicht mehr aus: In Tiefen von zehn bis 14 Kilometern sackt diese nach unten weg. "Das nehmen wir als Erdstoß an der Oberfläche wahr", sagt der Seismologe. Je länger der Abschnitt war, an dem es zum plötzlichen Bruch und Absacken gekommen ist, desto mehr Energie wird freigesetzt und desto stärker äußert sich das Beben.

Eine geologische Störzone im Grassberg beim Vortrieb in Gloggnitz machte eine Verlängerung der Bauzeit des Semmering-Basistunnels im Frühjahr 2022 unausweichlich.
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200 Nachbeben und akribische Feinarbeit

Spürbare Nachbeben wird es vereinzelt noch ein paar Tage geben, diese werden im Normalfall immer schwächer. "Die messbare Tätigkeit wird einen Monat anhalten", weiß Vogelmann aus Erfahrung. Es kann sein, dass sich in einer Woche noch einmal ein Beben ergibt, aber messbar rechnet man mit 100 bis 200 Nachbeben.

"Wir werten all diese Beben aus, und da ist viel Handarbeit dabei, obwohl wir von Computern unterstützt werden", sagt der Forscher. Die Feinarbeit müssen letztlich immer noch die Seismologin oder der Seismologe übernehmen. Dabei wird ganz exakt erhoben, wann genau die verschiedenen Wellentypen, die ein Erdbeben begleiten, eingesetzt haben.

Bei den drei Wellentypen handelt es sich um Kompressions-, Scher- und Oberflächenwellen. Kompressionswellen breiten sich mit 5.000 Metern pro Sekunde in der oberen Erdkruste aus. Die nachfolgenden Scherwellen sind mit 2.000 bis 3.000 Metern pro Sekunde zwar langsamer, stellen aber die gefährlicheren Wellen dar. "Sie haben mehr Kraft, größere Amplitude, niedrigere Frequenz und sind jene Wellen, die auch für Schäden verantwortlich sind", erklärt Vogelmann. Sie sind am heftigsten zu spüren.

Schwankungen bis Linz

Die dritte Wellenart – die Oberflächenwellen – regt den oberen Teil der Erdkruste zu Schwingungen an, die nur entlang der Oberfläche laufen. Beim aktuellen Beben in Gloggnitz seien diese Wellen interessant, da sie in großer Entfernung zum langsamen Schwanken von Hochhäusern führen können. "Man hat das Gefühl, als wäre man seekrank", beschreibt es Vogelmann. Stehe man jedoch am Erdboden draußen auf der Straße, merke man gar nichts von diesen Oberflächenwellen.

Beim Erdbeben in Gloggnitz kamen Berichte über solches Schwanken sogar aus Linz. "Bei extrem starken Erdbeben können diese Wellen auch mehrmals um den Erdball laufen", sagt er.

Der Wolkenkratzer Taipeh 101 während eines Erdbebens, das sogar Kräne vom Gebäude rüttelte.
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Baulich kann man hier mit unterschiedlichen Techniken gegenarbeiten. Ein berühmtes Beispiel ist der Wolkenkratzer Taipeh 101 in der gleichnamigen asiatischen Metropole. Dieser ist mit einem gigantischen Pendel versehen, das Gebäudeschwingungen dämpft.

Das weltgrößte Tilgerpendel fängt im Inneren von Taipeh 101 Schwingungen ab.
Taiwan News

Auf die Hundertstelsekunde genau

"Wichtig für die Forschung ist, dass man ganz genau auf die Hundertstelsekunde weiß, wann die Wellen bei den Messstationen angekommen sind", erläutert Vogelmann. Zu diesem Zweck betreibt die Geosphere Austria rund 60 hochempfindliche Erdbebenstationen in ganz Österreich. Es gebe zwar noch mehr Messgeräte, die direkt in bewohnten Gebieten vor allem in Kellern von Gebäuden aufgestellt werden – so auch in Neunkirchen und Wiener Neustadt. Diese Geräte seien jedoch weniger empfindlich. In besiedelten Regionen mache es keinen Sinn, hochsensible Messgeräte zu installieren, denn die Anwesenheit des Menschen verzerre die Messungen.

"In Wohngebieten gibt es zu viele Faktoren, die ein künstliches Erschütterungsrauschen erzeugen", sagt der Forscher. Die Erschütterungen vorbeifahrender Straßenbahnen, Lkws und Eisenbahnen verzerren die Messungen ebenso, wie es zum Beispiel auch Wasserpumpen tun können. Deshalb hätten teure, empfindliche Geräte in solchen Gebieten keinen Sinn. "Da wäre dann jede zufallende Tür aufgezeichnet", spitzt es Vogelmann zu.

Seismologie sucht ruhige Standorte

Generell wird es für die Seismologie zunehmend schwieriger, geeignete und ruhige Standorte zu finden, an denen die nötige Feinarbeit stattfinden kann. "Je stärker das Hintergrundrauschen ist, desto ungenauer und später sehe ich den Einsatz der Bebenwelle und wann sie tatsächlich an der Messstation angekommen ist", erläutert der Forscher. Doch gerade die Wellen in den ersten Zehntelsekunden sind gewöhnlich sehr schwach. "Im verrauschten Stadtgebiet sehe ich diesen Einsatz gar nicht." Problematisch nehmen sich auch Windräder aus, die über eine Distanz von 30 Kilometern alle seismologischen Messungen verzerren können.

Weshalb es zentral ist, alle Wellentypen exakt zu vermessen, erklärt Vogelmann so: "Gerade die Tiefe eines Bebens ist ein Wert, der sich durch die Feinauswertung besser bestimmen lässt." Die Tiefe ist jener Parameter in der Auswertung, bei dem sich anfangs die größte Ungenauigkeit ergibt und bei dem sich die Detailarbeit am meisten auszahlt. "Für die Berechnung von Gefährdungskarten ist die Tiefe ein unverzichtbarer Punkt, denn damit kann ich auch die Bruchzonen in der Erdkruste verfolgen." Diese verlaufen nicht senkrecht zur Erdoberfläche, sondern liegen häufig schief und sind nach unten hin gekrümmt.

Erdbeben verorten, Bruchlinien erkennen

Um diese Bruchzonen verorten zu können, hilft auch die Analyse von Nachbeben, die vielfach nicht spürbar, sondern nur messbar sind. Für die Forschung sei es von hohem Stellenwert, den Verlauf der Bruchflächen möglichst gut in der Tiefe nachverfolgen zu können. "Kann ich diese Nachbeben allerdings genau lokalisieren, kann ich die Bruchfläche im Untergrund nachvollziehen", sagt der Seismologe.

Dafür brauche es ruhige Standorte, menschliche Feinarbeit und möglichst hochempfindliche Messgeräte. Bei letzteren habe die Technik jedoch schon das physikalische Limit erreicht. "Mehr geht nicht", fasst Vogelmann zusammen. Die in Österreich eingesetzten Seismometer messen in Nanometern pro Sekunde.

Gefährdungskarte weist Risiko aus

Es gibt aber auch andere Regionen in Österreich, wo eine ähnlich starke oder noch stärkere Gefährdung und Bebenbelastung vorherrscht. Dazu gehört etwa das Inntal. Auf der Website von Geosphere Austria findet sich auch eine Gefährdungskarte für das gesamte Bundesgebiet. Auf dieser werden Gefährdungswerte für Regionen oder auch einzelne Städte ausgewiesen.

Dabei gilt, dass der ausgegebene Wert in einem Zeitraum von 50 Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent nicht überschritten wird. Die Gefährdungskarte habe allerdings nichts mit konkreten Erdbeben zu tun, betont er. Vielmehr wird auf Basis der verzeichneten Erdbeben – auch vieler historischer Beben – berechnet, wie sich die Gefährdungslage in einer bestimmten Region darstellt.

Die stärksten Erdbeben des Landes

Im Schnitt gibt es in Österreich 50 fühlbare Erschütterungen pro Jahr. Im Jahr 2022 wurden hierzulande 87 Erdbeben von der Bevölkerung bemerkt, wie die Geosphere Austria berichtet. Blickt man in der Geschichte weiter zurück, stößt man auch auf sehr heftige Beben. Ein Hindernis ist hierbei, dass es erst seit knapp 120 Jahren technische Messgeräte gibt.

Das Tortendiagramm zeigt, in welchen Bundesländern sich im Jahr 2022 in Österreich spürbare Erdbeben ereignet haben.
Foto: Geosphere Austria (ehemals Zamg)

Das stärkste damit bisher gemessene Beben fand im Jahr 1927 in Schwadorf – unweit von Schwechat – statt. "Allerdings konnte nur der Anfang des Bebens gemessen werden, dann waren die Erschütterungen für den Seismografen zu stark, die Schreibnadeln sind teils abgesprungen", sagt Vogelmann. Auch die Magnituden-Skala existierte damals noch nicht. "Man kann in etwa schätzen, dass das Beben eine Magnitude von 5,5 hatte", fügt er hinzu.

Es ist jedoch nicht das stärkste bekannte Beben in Österreich. 1590 ereignete sich bei Ried am Riederberg ein verheerendes Erdbeben. Das Beben vom 15. September im Tullnerfeld hatte auf die Bundeshauptstadt Wien die bisher stärksten Auswirkungen. Neben vielen Gebäudeschäden waren auch mehrere Todesopfer zu beklagen. "Es ist das stärkste Beben, von dem noch ausreichende und verlässliche historische Quellen verfügbar sind", sagt der Seismologe. Dieser Einschätzung ging wissenschaftliche Detektivarbeit voraus, die Jahre der Arbeit in Anspruch genommen hat.

Detektivarbeit in Archiven

Dass die Ergründung dieser lange vergangenen Ereignisse so schwierig ist, hat mehrere Gründe: Viele Aufzeichnungen liegen in lateinischer Sprache vor, auch die damals verwendeten Begriffe und Formulierungen müssen richtig interpretiert werden. Vielfach wurden Erdbeben als Strafe Gottes dargestellt und teils kirchlich instrumentalisiert. Entsprechend wurde auch völlig anders über diese Naturereignisse gesprochen und geschrieben.

Die österreichische Chronik der Schadenbeben reicht bis 1000 nach Christus zurück. Natürlich sind ältere Aufzeichnungen in den Chroniken mit großen Unsicherheiten behaftet, und eine Interpretation gestaltet sich dementsprechend schwierig und aufwendig. Doch es gibt einige verlässliche Hinweise, erklärt Vogelmann: "Hilfreich sind vor allem Rechnungen von Handwerkern, wenn etwa Schäden an Kirchen, Rathäusern und anderen Gebäuden zu reparieren waren."

Angesprochen auf das Datum des nun vorgefallenen Bebens in Gloggnitz, das sich auf den Tag genau exakt zwei Jahre nach dem letzten schweren Beben in der Region ereignete, lacht der Seismologe. "Das ist reiner Zufall, denn Erdbeben wissen nicht von unserem Kalender." (Marlene Erhart, 31.3.2023)