"Jene, die übrig geblieben sind, sitzen stumm in ihren Wohnungen und sehen bis zu ihrem Tod die Sonne nur mehr durchs trübe Fenster": Andreas Renoldner.
Foto: Imago/Photothek

Hat es ein österreichischer Staatsbürger geschafft, zum Augenblick des Pensionsantrittes 180 Monate lang Beiträge geleistet zu haben, wird 2022 die Pensionszahlung mit der Ausgleichszulage auf 973,48 Euro aufgestockt. Gemeinhin wird das als Mindestpension bezeichnet.

Weder zuhören noch nachfragen

Wer noch agil ist, Freunde und Verwandte hat und sich mithilfe von Medien bis Internetzugang orientieren kann, findet Wege, damit das Auslangen zu finden. Hier gibt es Aktionspreise, dort günstige Menüs, man hat Zugang zu einem Garten, kurz: Es gibt Möglichkeiten, sich durchzuschlagen. Ich weiß aus meiner Lebenspraxis, dass man, ohne ein Gefühl von Mangel zu erleben, damit auskommen kann. Mein Fahrrad hat mich ans Nordkap und nach Kreta gebracht. An Geld hat es mir nie gefehlt.

Sind die besten Freunde verstorben, letzte Verwandte ins Ausland verzogen oder der einst geliebte Gatte zum Feind geworden, steht man mit den einsetzenden Altersproblemen allein da. Dann geht es oft schnell: Stolpern. Knochenbruch. Spital. Dort meldet sich das Entlassungsmanagement, erhebt Lebensumstände und empfiehlt einen Vertrag mit einer Betreuungsorganisation. Von da an stürmen zu nicht vorhersehbaren Zeiten Helferinnen und Helfer, Assistentinnen, Fachpfleger, Diplomschwestern oder anders genannte Kräfte in die Wohnung. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie haben wenig Zeit und vergessen, die Straßenschuhe auszuziehen. Sie können weder zuhören noch nachfragen und haben keine Ahnung von Vorlieben oder Lebensrhythmus der Menschen, denen sie helfen.

Auf Hilfe angewiesen

Sie alle aber haben ein Mobiltelefon, von dem sie eine Liste an Interventionen ablesen, die sie an den Klienten abarbeiten müssen, ehe sie wieder zur Türe hinausrennen. Im besten Fall können sie Wünsche und Beschwerden an eine Einsatzleitung weiterleiten, manchmal wird neuerlich eine Case-Managerin geschickt, die wegen der Dienstvorschriften die Interventionsliste nicht wesentlich verändern kann.

Den auf Hilfe Angewiesenen bleibt nichts anderes übrig, als sich in ein Regelsystem zu fügen. Das selbstbestimmte Leben in den eigenen vier Wänden wird zu einem von pflegerischen Zwängen bestimmten Herumsitzen oder Liegen. Heute steht um sechs Uhr fünfzehn eine unbekannte Hilfskraft vor der Tür, sperrt mit dem Schlüssel aus dem Safe auf und knallt wenig später eine Tasse mit heißem Wasser vom Wasserhahn aufgegossenes Kaffeepulver auf den Tisch, dazu schlabberiges, nicht getoastetes Toastbrot, weil alle Alten nicht beißen können, darauf angeblich gesunde Diätmargarine, obwohl der Klient lieber Butter auf Schwarzbrot hätte.

Leider hat der Einkaufsdienst gestern berichtet, Schwarzbrot sei nicht erhältlich. Dann soll der in Betreuung Befindliche endlich in die Dusche steigen, obwohl er am Vorabend selbst geduscht hat, doch die Interventionsliste sieht Dusche am Morgen vor, und daher wird am Morgen geduscht oder der Hinweis "Klient verweigert" angeklickt.

DER STANDARD geht in seiner Serie "Gesundheitssystem am Limit" den Fragen nach, wo in der Gesundheitsversorgung in Österreich Engpässe auftreten, warum Veränderungen auf sich warten lassen und wie Lösungen aussehen können.

Medikamente zum Frühstück

Tags darauf steht eine andere unbekannte Helferin gegen neun Uhr für den Morgeneinsatz vor der Tür. Sie richtet eine Tasse Früchtetee, obwohl der Klient darauf hinweist, dass er bereits gefrühstückt habe. Auch sie will ihn in beachtlicher Lautstärke in die Dusche hineinmotivieren, weil alle Alten schwerhörig sind. Die ausgebrannte Glühbirne können die Hilfskräfte nicht tauschen, manche schaffen nicht einmal das Einschalten der Waschmaschine. Das Einzige, worauf man sich als Klient verlassen kann, ist das Anreichen der Medikamente. Kaum hat man den Mund geöffnet, um darauf hinzuweisen, dass man bereits gefrühstückt habe, hat man schon die Tabletten und Kapseln im Mund. Nun hilft nur mehr nachspülen oder ausspucken, weil man nie erfahren hat, was man da warum schlucken soll.

Dann sitzen oder liegen sie stumm. Dem Geschehen im Fernsehapparat zu folgen gelingt zunehmend schlechter, weshalb der nicht mehr eingeschaltet wird. Das Mobiltelefon mit der eingespeicherten Notrufnummer sollte auf dem Kästchen liegen, aber der Akku ist ohnehin leer, oder das Gerät ist aus Versehen auf Slowakisch umgestellt worden, und niemand schafft es, Deutsch zu wählen.

Schlabberiges Toastbrot

Plötzlich steht eine unbekannte Person da und redet von einer Mittagsmahlzeit, die vor der Türe abgestellt worden ist. "Wo steht Ihre Mikrowelle?" So ein Gerät gibt es hier nicht, und so werden die Spaghetti samt Sauce in einem Topf gewärmt. Er will das jetzt nicht essen, sagt der Klient, weil er sein Leben lang immer abends gegessen hat.

Zu Mittag reicht ihm ein Butterbrot, aber im Kühlschrank finden sich nur Diätmargarine und schlabberiges Toastbrot. Leider hat die Hilfskraft absolut gar keine Zeit, um jetzt einkaufen zu gehen. Außerdem müsste sie dafür Bargeld bekommen. Nein, vom Bankomaten darf sie nichts holen. Auf Wiedersehen. Begleitung aus der Wohnung ist aus Zeitmangel nicht möglich. Dafür müsste man einen Begleitdienst bestellen und natürlich auch bezahlen. Der inzwischen defekte Staubsauger, zu dem ohnehin kein passender Staubsack mehr zu kriegen ist, bleibt in der Ecke, zum Annähen des dritten Jackenknopfes fehlen Nadel und Geduld, der Wasserhahn wird noch länger tropfen, der Stuhl, dessen linkes Bein vorn zu wackeln begonnen hat, wird in eine andere Zimmerecke gelehnt. Die so freundliche alte Dame wäre gerne wenigstens für zehn Minuten im Park gesessen. Ein neues Leintuch wäre nötig. Und wer putzt die Schuhe?

"Am schlimmsten ist das Alleinsein. Das macht dich wahnsinnig, wenn niemand hier ist, um einen netten Satz zu sagen." Leider sei sie als Einzige aus dem Freundeskreis übrig geblieben, der Gatte vor acht Jahren verstorben. "So alt zu werden ist eine Strafe!" Am zweitschlimmsten ist das Fertigessen. "Was man wirklich braucht, wollen, können oder dürfen sie nicht machen, oft ist die knappe Einsatzzeit die Ausrede, aber wenn ich einmal die Toilette nicht rechtzeitig erwische, werde ich beschimpft."

Handlungsanleitungen

Er könne sich jederzeit beschweren, sagen die Hilfskräfte. Irgendwo steht die Telefonnummer, aber er verwähle sich immer. Irgendwann lässt er es bleiben. Unlängst habe eine Diplomschwester mit ihm so laut geschrien, dass die Nachbarin gekommen sei und gefragt habe, wer denn die Dame sei, die da mit ihm schreie. Er habe sich bloß darüber beschwert, dass man ihm Lebensmittel in den Kühlschrank stelle, die er nicht essen wolle und die auch nicht auf der von ihm eigens in Blockbuchstaben verfassten Einkaufsliste notiert gewesen seien. Eine Hilfsperson und eine zu betreuende Person stehen einander in verschlossenen Wohnungen gegenüber. Von den Helfern wird schriftlich dokumentiert, dass die Klienten verweigern, nicht duschen und nicht essen wollen, zu wenig trinken, die Toilette nicht erreicht haben, sich zu Unrecht beschweren, unberechtigte Forderungen stellen, manche werden sogar aggressiv. Die Betreuten erfahren nie, was gegen sie geschrieben wird.

Helferinnen und Helfer wollen das Beste, müssen aber eine lange Liste an Handlungsanleitungen im Kopf haben und sich davon anleiten lassen. Das kybernetische System zur Steuerung von Fertigungsrobotern wird nun an den Klientinnen und Klienten angewendet. Der Tag wird in die Normteile Aufstehen, Toilettengang, Körperpflege, Anziehen, Frühstück und so weiter zerlegt. Zu jedem der Teile gibt es eine Liste an Defiziten, die trotz Ressourcen wie "Klient lässt Pflege zu" eine pflegerische Handlung auslösen können.

Schriftsteller Andreas Renoldner.
Foto: privat

Neue Medikamente

Sollte jemand vor dem Gesichtwaschen eine Tasse Kaffee trinken wollen, stört das den geregelten Ablauf der Pflege. Sollte jemand, statt zu frühstücken, lieber eine Zigarette rauchen, verweigert er die lebenswichtige Nahrungsaufnahme und ist in Gefahr! Daher werden da und dort Schüsselchen mit Nahrungsmitteln positioniert, die tagelang stehen bleiben, weil niemand sie verräumt. Auch findet man in den Wohnungen der Betreuten überall halbvoll mit Wasser gefüllte Gläser, an deren Innenwänden bereits Algen zu schleimen beginnen. Viel trinken ist wichtig!

Auf einmal steht ein Facharzt der Psychiatrie vor der Wohnung. Man habe glaubhafte Berichte, wonach er gegen Helfer aggressiv geworden sei, unter anderem mit lautstarkem Schreien, eine der Damen habe er zur Wohnungstüre hinausgeschoben. Ein paar Tage später muss der Klient neue Medikamente schlucken. Langsam schleicht sich so etwas wie Trägheit ins Leben, und er erzählt, dass er sich in letzter Zeit antriebslos fühle. Was du und ich unter Armut verstehen, Geldmangel, Reparaturen zu teuer, Heizkosten sparen, keine Reisen, kein Kino oder Konzerte, hat mit dem, was vielen im Alter bevorsteht, nichts zu tun. Die meisten haben Interesse an Theater oder Reisen längst verloren. Nachrichten aus Radio oder Zeitung sind unverständlich geworden. Sie bräuchten jemanden, den sie kennen, der mit ihnen spricht und zuhört.

Stummes Warten auf den Tod

"Sie werden nicht von Menschen, sondern von einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung gepflegt!", habe ich einer Dame erklärt. "Das ist mir auch schon aufgefallen!", hat sie geantwortet. Jene, die übrig geblieben sind, sitzen stumm in ihren Wohnungen und sehen bis zu ihrem Tod die Sonne nur mehr durchs trübe Fenster. Manche Kastentüre schließt nicht mehr, im kleinen Zimmer türmen sich defekte Gegenstände, der Lieblingspullover hat Löcher, und am Design erkennt man, wann Energie und Geld für Erneuerungen verloren gegangen sind.

Es gibt auch niemanden, der sie durchführen würde. Fenster zu putzen ist Heimhilfen verboten, sollte ein Einkauf schwerer sein als fünf Kilo, müssten sie zweimal ins Geschäft gehen, was in der knappen Einsatzzeit nicht möglich ist. Für hilfsbedürftige Alleinstehende in Österreich bedeutet Altersarmut, sich vergeblich gegen das Betreuungssystem zu stemmen, langsam zu resignieren und in der mit Pflegebett, Leibstuhl, Rollmobil und anderen Hilfsmitteln vollgestopften Wohnung auf ein Ende zu hoffen. (Andreas Renoldner, 31.3.2023)