Österreich ist neutral, und eine große Mehrheit der Österreicher will, dass das so bleibt. Sie wollen sich aber auch nicht wirklich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass sich vor einem Jahr die Sicherheitslage in Europa fundamental geändert hat. Russland hat unter einem von Revanchegedanken geleiteten Despoten das Nachbarland Ukraine überfallen, weitere Länder (Moldau, Georgien) nicht nur verbal bedroht – es will den gesamten Kontinent unter seinen Einfluss bringen.

Die FPÖ-Fraktion stellte Taferl auf und verließ während Wolodymyr Selenskyjs Rede den Plenarsaal.
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Wie sehr große Teile der heimischen Politik diesen Epochenwechsel nicht begreifen, hat man am Donnerstag im Parlament gesehen. Die Abgeordneten der FPÖ verließen vor der Videoansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj den Saal unter Hinterlassung von Taferln mit Hinweisen auf "Frieden" und "Neutralität". Der wirkliche Hammer kam dann in der anschließenden Pressekonferenz des FPÖ-Chefs Herbert Kickl, der sagte, der Ukrainekrieg sei ja nichts anderes als "der Krieg der USA und der Nato gegen Russland auf ukrainischem Boden".

Das ist eine atemberaubend zynische Tatsachenverdrehung von historischer Qualität. So haben die Propagandamaschinen der Nazis und der Sowjets gearbeitet (und arbeiten die russischen heute). Kickl gab sich als "Neutralitätsversteher" (eine geschickte Verdrehung des Vorwurfs "Putin-Versteher") und sagte, die Nato-Staaten Ungarn und Türkei seien neutraler als Österreich.

"Kickls 'Neutralität' ist in Wirklichkeit eine Parteinahme für Russland."

Das ist kein Zufall. Beides sind autoritäre Systeme, wie die Kickl-FPÖ sie liebt und gerne auch in Österreich einführen möchte. Kickls "Neutralität" ist in Wirklichkeit eine Parteinahme für Russland. Die FPÖ ist die einzige Partei, die ein Kooperationsabkommen mit der Putin-Partei hat. Zum Drüberstreuen ließ er dann noch durchklingen, dass es besser wäre, nicht in der EU zu sein.

Kickl weiß, wer Wladimir Putin ist, und will ihm in die Hände arbeiten. Die SPÖ, nach den Wahlen 2019 größte, nach Umfragen derzeit zweitgrößte Oppositionspartei, weiß im Moment gar nichts. Sie hat auch keine Außenpolitik. Die Hälfte der Abgeordneten war zu Selenskyjs Rede nicht erschienen. Die Klubführung hatte das einfach so treiben lassen.

Undurchdachter Pazifismus

In der SPÖ wie in der Linken überhaupt gibt es eine starke Strömung, in der sich USA- und Nato-Feindschaft, Nostalgie für den alten sowjetischen "Sozialismus" und ein undurchdachter Pazifismus mischen: Es soll kein Krieg sein, Waffenlieferungen an ein überfallenes Land sind "Kriegstreiberei", die Ukraine ist auch irgendwie schuld, und man muss Putin und die Russen auch irgendwie verstehen. Die Osteuropäer hätten eben nicht in die Nato flüchten und damit Putin unnötig reizen sollen. Schließlich hat er doch ein gewisses Recht auf eine Einflusssphäre. Und die Nato und die USA sind sowieso auch böse. Die Neutralität schützt uns, und man muss eben einfach "Friedensgespräche" führen, auch wenn Putin nicht den Funken einer Bereitschaft dazu zeigt.

Diese wirre Weltsicht reicht tief in die heimische (und deutsche) Linke. Auch der Vorsitzkandidat Andreas Babler ließ Elemente davon erkennen, ehe er doch auf ein "Die Ukraine muss sich gegen einen Aggressor verteidigen können" schwenkte. Das ändert aber nichts daran, dass große Teile der SPÖ die neue Lage in Europa, die durch Putins Neoimperialismus entstanden ist, nicht begriffen haben oder nicht begreifen wollen. Das ist eine Katastrophe für eine Partei, die irgendwann wieder Regierungsverantwortung übernehmen will. (Hans Rauscher, 1.4.2023)