Auf der A22 im landschaftlich und städtebaulich so reizvollen Gemeindebezirk Floridsdorf herrscht des Öfteren dichter Verkehr. Eine Auseinandersetzung in diesem führt nun zu einem Strafprozess.

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Wien – Richter Christian Gneist kann im Verfahren gegen den 31-jährigen Herrn D. sein Erstaunen mehrmals nicht verbergen. Etwa als der Angeklagte erklärt, warum er eine Pistole, die Chiliöl versprüht, im Auto hat. "Ich gehe wandern. Das ist ein Tierabwehrgerät", verrät der Unbescholtene. "Für welche Tiere?" – "Hunde, Wildschweine oder Kühe." – "Glauben Sie mir, ich mache den Job schon länger, aber die Erklärung habe ich noch nie gehört. Das ist ja abenteuerlich!" – "Herr Rat, beim Bundesheer haben wir gelernt, dass 30 Schuss bei einem Wildschwein nicht reichen." – "Wo gehen Sie denn wandern?" – "Beim Grünen See zum Beispiel." – "Dort gibt es aber keine Wildschweine." – "Aber viele Kühe", belehrt der Angeklagte den Richter.

Vor dem er sitzt, da er am Mittag des 23. Dezembers auf der A22 ein anderes Fahrzeug grundlos zu einer Vollbremsung genötigt haben soll und anschließend dessen Lenker und Beifahrer – Vater und Sohn B. – mit der Chiliölpistole besprüht und mit dem Pistolenknauf auf sie eingeschlagen haben soll, wie ihm der Staatsanwalt vorwirft. Angeklagt sind also Körperverletzung und Nötigung. D. hätte eigentlich gerne Manfred Arbacher-Stöger als Rechtsbeistand an der Seite gehabt. Jedoch: "Der Herr Doktor Stöger war mir ein wenig zu teuer", verrät der Angeklagte, dessen Antrag auf Verfahrenshilfe von Gneist abgelehnt wurde, da beim drohenden Strafrahmen keine Anwaltspflicht besteht.

Auf die Frage des Richters, ob er sich schuldig bekenne, antwortet der Student in der dritten Person. "Ich glaube, man hätte verhindern können, das Chiliöl einzusetzen", gibt er zu. "Wen meinen Sie mit 'man'? Sich?" – "Ja." – "Dann müssen Sie 'Ich' sagen", belehrt der Richter ihn.

Angeklagter sieht sich als Opfer

Nach Schilderung des Angeklagten sei jedenfalls er selbst eigentlich das Opfer. Er sei an diesem Tag auf dem Weg zu einem Termin gewesen, der Autoverkehr war dicht. Angeblich wollte ihn Vater B. mehrmals nicht die Spur wechseln lassen. Irgendwann geriet er doch auf der linken Fahrspur hinter B., als der plötzlich unmotiviert eine Vollbremsung hinlegte. "Von 80 auf 0 km/h", behauptet der Angeklagte. Er habe mit dem Audi seiner Mutter nur durch eine Notbremsung einen Crash verhindern können, danach habe er vergessen, vom sechsten Gang herunterzuschalten, sein Wagen nahm kein Gas mehr an, daher sei er rechts auf den Pannenstreifen gerollt.

"Ich habe ein wenig gezittert, es hat alles gequietscht", erinnert er sich. Plötzlich habe er im Rückspiegel gesehen, dass der Smart hinter ihm stand und der Lenker aggressiv auf ihn zukam. Gneist und der Staatsanwalt wollen das nicht recht glauben. Zur Veranschaulichung verwendet der Richter sein Mobiltelefon und ein Strafgesetzbuch: "Wenn Sie hinter ihm fahren und beide eine Notbremsung machen, wie soll Herr B. dann hinter Ihnen zum Stehen kommen? Sind Sie über ihn drübergesprungen?" – "Ich weiß es nicht, Herr Rat."

Gegner soll Auto beschädigt haben

Herr B. habe jedenfalls versucht, in sein Auto einzudringen, ist D. sich sicher. Der Kontrahent habe auch vorne gegen das Auto getreten und ihn fotografiert. "Ich habe nicht überreagiert, ich bin im Auto geblieben", betont der Angeklagte. Die Reaktion erfolgte erst, als Herr B. wieder ging: Da holte der Angeklagte die Chiliölpistole aus dem Handschuhfach. "Es ist ja das Auto Ihrer Mutter – die hat so was dabei", staunt Gneist wieder einmal. "Nein, ich benutze das Auto öfters", entgegnet D. und erklärt den eingangs erwähnten Wanderhintergrund.

"Ich bin ausgestiegen, um den Herrn zu bitten, mir aus dem Weg zu gehen, damit ich weiterfahren kann", schildert der Angeklagte weiter. Da der Kontrahent aber aggressiv näher gekommen sei, habe er den Spray eingesetzt. "Sie haben B. danach aber auch mit dem Knauf geschlagen", hält der Richter ihm vor. Auch Sohn B., der seinem Vater zu Hilfe eilte, griff der Angeklagte an. "Ja, aber der hat zugegeben, mich mehrfach getreten zu haben." Als ein zufällig vorbeifahrendes Fahrzeug des Arbeitersamariterbundes anhielt, um Hilfe zu leisten, ließ D. von Familie B. ab, sprang in sein Auto und fuhr davon. Später stellte er sich noch vor Einleitung der Fahndung der Polizei.

Verbotene Waffe oder Spielzeug?

Die einen weiteren Anklagepunkt beisteuerte, den Besitz einer verbotenen Waffe. Laut Anzeige habe sich nämlich eine Stahlrute in D.s Fahrzeug befunden. Der Angeklagte bestreitet das energisch. "Das ist ein Kinderzauberstab", sagt er und übergibt Gneist auch einen Screenshot der Seite eines großen Online-Händlers, auf dem das Produkt zu sehen ist. Der Richter muss langsam einen Muskelkater in der Stirnpartie bekommen, so oft zieht er die Augenbrauen erstaunt nach oben: "Wie kommt der jetzt ins Auto?", will Gneist wissen. Er habe den ausziehbaren Zauberstab für einen etwaigen Reifenwechsel dabei, verkündet der Angeklagte.

Vater und Sohn B. haben den Vorfall komplett anders wahrgenommen. Der Angeklagte sei im Kolonnenverkehr "permanent zickzack gefahren", sagt der 48-jährige Vater. Der Zeuge will gar nicht ausschließen, dass er sich bei einer Gelegenheit mehrmals mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die Stirn getippt hat. Nach der Ausfahrt Prager Straße habe D. dann von rechts nach links umgespurt und sei mit hoher Geschwindigkeit näher gekommen. "Ich habe das im Rückspiegel gesehen und bin nach rechts gefahren, um eine Kollision zu vermeiden. Dann ist auch er nach rechts gefahren und hat eine Vollbremsung gemacht, sodass ich auf den Pannenstreifen fahren musste."

Handyfotos auf der Autobahn zu Beweiszwecken

Noch vom Smart seiner Gattin aus fotografierte Herr B. das Kennzeichen des Audis. "Dann bin ich ausgestiegen, um auch den Fahrer zu fotografieren. Die Leute sagen ja gerne, es ist jemand anders gefahren." – "Warum steigen Sie auf der Autobahn überhaupt aus und fahren nicht einfach weiter?", hat der Richter neuerlich eine Gelegenheit zum Staunen. "Weil ich ihn anzeigen wollte. Aber das werde ich nie wieder machen", hört er als Antwort.

B. kann aber auch seine seltsamerweise nicht im Akt befindlichen Bilder herzeigen. Zu sehen ist, dass er zunächst rechts durch das Beifahrerfenster und dann von vorne versucht den anderen Lenker abzulichten. D. verdeckt allerdings zunächst mit einer und dann zwei Händen das Gesicht. "Dann habe ich ihn fotografieren können und bin auf dem Rückweg zu meinem Auto gewesen, als er plötzlich ausgestiegen ist und mir direkt in die Augen gesprüht und danach wie ein Irrer auf mich eingeschlagen hat." Neben dem körperlichen Ungemach wurde auch seine Jacke zerrissen, und die Airpods gingen verloren. B. will daher 2.000 Euro Schmerzensgeld und Schadenersatz.

Rettungssprung des Sohnes

Sein 21-jähriger Sohn erinnert sich, dass er im ersten Moment nicht wusste, was er machen solle, als das Chiliöl gegen seinen Vater eingesetzt wurde. Als die Schläge begannen, sei er dann hingelaufen. "Ich habe versucht, wie ein Ninja den Herrn mit dem Fuß voran anzuspringen, damit ich ihn von meinem Vater trenne", schildert er. "Wo haben Sie ihn getroffen?", interessiert den Richter. Der Sohn zeigt auf den rechten Oberkörper. Er sei vom Angeklagten dann in den Schwitzkasten genommen worden und glaubt, auch noch eine Ladung Reizstoff abbekommen zu haben. Für seine zerrissene Jacke möchte er 400 Euro Schadenersatz.

Auch nach den Zeugenaussagen bleibt der Angeklagte bei seiner Darstellung. Auf Nachfrage des Staatsanwalts muss er aber zugeben, bereits zumindest einmal eine Diversion bekommen zu haben. Angeblich wegen einer Sachbeschädigung bei einem Parkunfall. "Haben Sie ein Aggressionsproblem?", will Gneist wissen. "Ich kann ehrlich zugeben, dass ich ein temperamentvoller Mensch bin. Es wäre wieder einmal Zeit für eine Freundin", lautet die Antwort, deren Sinn sich dem Richter nicht ganz erschließt. "Würden Sie ein Antiaggressionstraining absolvieren?" – "Ja."

Bedingte Haft und Antiaggressionstraining

Schlussendlich hält Gneist die Version der B.s für viel glaubwürdiger, da die Schlussposition der Fahrzeuge ja auch von unabhängigen Zeugen bestätigt wurde. Wegen Nötigung erhält D. drei Monate bedingte Haft und zusätzlich die Weisung zum Antiaggressionstraining. Den B.s werden jeweils 100 Euro zugesprochen. Die Fotosession auf der Autobahn sei zwar "eine Konfrontationssuche von Herrn B. gewesen", die auf einer Autobahn nichts verloren habe, rügt der Richter. Dennoch habe der Angeklagte völlig überreagiert. Dem Sohn sei dagegen nichts vorzuwerfen, stellt Gneist auch klar: "Der darf Sie anspringen, wenn Sie seinen Vater attackieren."

Vom Vorwurf, der Kinderzauberstab sei eine verbotene Waffe, spricht der Richter den Angeklagten dagegen frei. Der Staatsanwalt akzeptiert die Entscheidung, da D. keinen Anwalt hat, bekommt er automatisch drei Tage Bedenkzeit, das Urteil ist daher nicht rechtskräftig. Ganz am Ende dreht sich der Angeklagte noch kurz in Richtung seiner im Saal verbliebenen Opfer. "Ich möchte mich hiermit auch entschuldigen", verkündet er. "Das hätten Sie auch schon vor zwei Stunden machen können!", merkt Gneist dazu an. (Michael Möseneder, 31.3.2023)