Der Soziologe Natan Sznaider schreibt in seinem Gastkommentar über die israelische Demokratie, die er in Gefahr sieht.

In Israel herrscht seit Monaten ein Bürgerkrieg. Ziel der bei der Parlamentswahl am 1. November 2022 gewählten Regierung ist ein Regimewechsel, von einer fragilen formalen Demokratie zu einem religiös untermauerten illiberalen Staat. Dem aber fügt sich ein großer Teil der israelischen Bürgerinnen und Bürger nicht widerspruchslos: Seitdem gehen mehrmals wöchentlich Hunderttausende auf die Straße.

Zumindest kurzfristig haben die Großdemos gegen die Pläne der Regierung Erfolg gehabt. Ob die Justizreform ganz gestoppt wird, ist aber offen.
Foto: AFP / Ahmad Gharabli

Gewählte, kleine Mehrheit

Die neue Regierungskoalition ist ein Bündnis aus vier Parteien, der rechtspopulistischen Likud-Partei, den beiden orthodoxen Parteien und einer rechtsradikalen, messianischen, homophoben und rassistischen Partei. Sie erreichten zusammen eine Mehrheit von 53 Prozent (64 der 120 Sitze im Parlament). Es ist eine demokratisch gewählte Mehrheit. Die Gewinner machen keinen Hehl aus ihrer Absicht. Sie wollen die Gewaltenteilung abschaffen, die Medien unter ihre Kontrolle bringen, Kultur und Wissenschaft ihren Ansichten unterwerfen und auch die seit 1967 besetzten Gebiete annektieren.

Bei den Protesten dagegen sind aber nicht nur die Verlierer der Wahl, sondern auch die Elite des Landes. Sie kommen mit israelischen Flaggen, um sich und der Welt zu beweisen, dass sie israelische Patriotinnen und Patrioten sind, dass sie für und nicht gegen Israel demonstrieren. Es ist das israelische Bürgertum, die Hightech-Branche, die Bankerinnen und Banker, die Anwältinnen und Anwälte, die Medienleute, die Akademikerinnen und Akademiker, die Kreativen, genau die, die sowohl das kulturelle Kapital als auch das Finanzkapital Israels erarbeiten. Aber auch die militärische Elite des Landes, die Reservistinnen und Reservisten und die Pilotinnen und Piloten.

Unmöglicher Kompromiss

Es steht viel mehr auf dem Spiel als Kompromisse in der Gesetzgebung, es handelt sich um konträre Weltanschauungen, wo es so gut wie unmöglich ist, Kompromisse zu erreichen. Deshalb ist der Gegenwind für das regierende Zweckbündnis so stark. Die Regierung rechnete wohl nicht mit einer solchen Protestbewegung. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Proteste haben eine klare Vorstellung von ihrem Land, das sie als Teil einer demokratischen Welt sehen, und sie sind bereit, es mit allen demokratischen und zivilgesellschaftlichen Mitteln zu verteidigen.

Am Abend des 28. März schien es, als ob der Regierungschef Benjamin Netanjahu dem Druck der Straße nicht mehr standhielte. Weniger als 24 Stunden davor hatte er noch seinen Verteidigungsminister entlassen, der vor den verheerenden Folgen für die Wehrhaftigkeit des Landes gewarnt hatte, falls die illiberalen Gesetzesvorlagen verabschiedet werden. Die Reaktion darauf waren spontane Massendemonstrationen in Israel und auch ein das gesamte Land erfassender Generalstreik. Viele Israelis hatten das Gefühl, dass Netanjahu und seine extremen Partner die Sicherheit des Landes aufs Spiel setzten, um ihre Politik durchzusetzen. Nun hat der Regierungschef die Gesetze für einen Monat ausgesetzt. Man verhandelt, aber die Fronten bleiben weiter verhärtet.

Plurale Gesellschaft

Die politische Landschaft ist nichts anderes als ein Spiegelbild der Spaltungen in den verschiedenen Gesellschaften Israels. Das Land besteht aus den verschiedensten Gruppierungen, die auf den ersten Blick eigentlich nichts gemeinsam haben: eine postindustrielle Hightech-Dienstleistungsgesellschaft und eine orthodoxe Lern- und Lehrgemeinschaft.

Es gibt zutiefst religiöse und dezidiert säkulare Menschen, es gibt die, die weltoffen sind und sich nach außen orientieren, und die Weltverschlossenen, die nur nach innen schauen. Israelis sind homoerotisch und homophob, liberal und autoritär, zivilgesellschaftlich und militaristisch, gleich und ungleich, anerkennend und diskriminierend, mitleidig und grausam. Und jenseits der "Grünen Linie", in den seit 1967 besetzten Gebieten oder in Judäa und Samaria, die Bezeichnung ist der politischen Einstellung geschuldet, herrschen andere Gesetze als im Kernland.

Es ist diese Gleichzeitigkeit verschiedenster Weltbeschreibungen, die Israel ausmachten. Das jetzige Regime beabsichtigt, diese pluralen Welten zu zerstören, zu vereinheitlichen und die Gesellschaften zum Spiegel seiner kleinen Mehrheit umzuformen.

Zionistischer Traum

Bisher verstand sich Israel als gleichzeitig demokratisch und jüdisch. Das Jüdische in dieser Formel ist der partikularistische Wunsch, einen Staat ausschließlich für Jüdinnen und Juden zu haben, während das Demokratische in dieser Formel den universalen Wunsch ausdrückt, Teil der aufgeklärten demokratischen Welt zu sein. So geht es in diesem Kampf um die aktuelle Verwirklichung dessen, was sich im Traum der Zionistinnen und Zionisten verbarg: dass Israel ein normaler Staat werden könnte. Ein Staat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern egal welcher Religion und Herkunft Sicherheit bietet. Ein Staat in Frieden, ein Staat, der nicht umstritten ist, und ein Staat, der von der Welt akzeptiert wird.

Die Demonstrierenden in Israel können nun hoffen, dass sie das schaffen werden. Sicher ist es nicht. Wie auf dem Theodor-Herzl-Platz in Wien demonstrieren die Menschen für und nicht gegen Israel. (Natan Sznaider, 1.4.2023)