Wesner hat sich dreieinhalb Jahr fast ausschließlich von Obst ernährt und war im Ring dennoch sehr erfolgreich.

Foto: Ulrik Hölzel

Vorsicht: Wer zum Yoga geht, kann auch im Boxring landen. Genau das ist Nicole Wesner passiert. Die gebürtige Kölnerin hat als 32-Jährige in einem Wiener Fitnesscenter ihre Leidenschaft entdeckt, dabei wollte sie eigentlich nur "Verschiedenes" ausprobieren. "Aber ich wusste ab der ersten Stunde: Das ist mein Sport." Über die Jahre holte die Wahlwienerin sechs WM-Titel, am Samstag verteidigte sie ihren Titel der World Boxing Federation (WBF) im Leichtgewicht (bis 61,125 kg) im Rahmen der Bounce Fight Night im Wiener Hotel Intercontinental erfolgreich.

Sie bezwang in dem über zehn Runden zu je zwei Minuten angesetzten Kampf die in Deutschland lebende Bosnierin Hasna Tukic (21 Kämpfe, zwölf Siege), die sie vor sechs Jahren in Ludwigshafen bereits nach Punkten geschlagen hatte. Diesmal setzte sie sich gegen Tukic nach einem unspektakulären Kampf und mehreren Körpertreffern durch technischen K.o. in der vierten Runde durch.

Niederlage für Marcos Nader

Marcos Nader hat danach seinen Kampf um den vakanten Titel des IBF International Champions verloren. Der 33-jährige Mittelgewichtsboxer ging gegen den Deutschen Alexander Pavlov in Runde zehn K.o. und verpasste damit die Rückeroberung jenes Gürtels, den er sich bereits 2019 geholt und vor einem Jahr verloren hatte. Michaela Kotaskova hat indes den WBF Intercontinental Titel hauchdünn nach Punkten gegen die marokkanische Weltergewichtlerin Mahjouba Oubtil gewonnen.

Die Vorbereitung war für Wesner insofern suboptimal, als sie mangels Boxveranstaltungen in Österreich nur einen Aufbaukampf im Dezember hatte. So musste sie sich vermehrt dem Sparring widmen.

Für die 45-Jährige war es der erste Titelkampf nach dreijähriger Wettkampfpause. Dazwischen kamen der Teilnehmerin an der ORF-Show Dancing Stars 2019 (Platz drei mit Dimitar Stefanin) die Pandemie und zwei Handoperationen. Bei ihrem bis dato letzten WM-Kampf 2019 hatte sich die Linksauslegerin einen Mittelhandknochenbruch zugezogen. Die Verletzung realisierte sie erst, als sie als Siegerin aus dem Ring stieg. "Ich habe sieben Runden mit gebrochener Hand weitergeboxt."

Alle Zähne

Ihrem Trainer war jedoch nicht verborgen geblieben, dass sie zwischendurch immer wieder unbewusst ihre verletzte Hand mit schmerzverzerrtem Gesicht schüttelte. Mit Platte und Schrauben wurde später "alles wieder gerichtet". Ansonsten blieb sie von schwereren Verletzungen verschont. "Ich habe noch alle Zähne. Und sollte später meine Nase zu sehr gelitten haben, dann bleibt zur Not der Gang zum plastischen Chirurgen."

Für die seit Corona Klavier spielende, Zen-Buddhismus praktizierende und während des Trainings auf der Rudermaschine mittels Netflix-Serien Sprachen lernende Wesner ist es nicht primärer Antrieb, die Beste zu sein. "Mir geht es hauptsächlich darum, besser in all dem zu werden, was ich tue." Darum motiviert sie sich, darum bestreitet sie Wettkämpfe. Sie ist überzeugt, mit Willenskraft und Fokus fast alles erreichen zu können. "Ich bin der Typ Mensch, der wahrscheinlich mit 80 noch irgendetwas Neues lernt." Ans Aufhören denkt sie nicht, die Grenze für Leistungssport schätzt sie bei circa 50 ein. "Wenn ich meinen Körper hege und pflege und immer dranbleibe, kann ich weitermachen. Viele hören auf, weil sie keine Motivation mehr haben." Das Alter werde oft vorgeschoben.

Spreu und Weizen

Wesner hat beim Wettkampf keine Hemmung, dem Gegenüber quasi die Goschn zu polieren, sonst wäre sie in diesem Sport auch fehl am Platz. "In dem Moment kannst du alles abrufen, was du gelernt hast, Technik, Taktik und Strategie umsetzen. Und es kommt ja auch was von der anderen Seite." Es brauche einen Killerinstinkt. "Du musst wissen, wann du den Kampf beenden kannst." Beim Training sei sie aber "extrem vorsichtig. Wir passen aufeinander auf."

Wesner hat lange beim Boxklub Gym23 trainiert, auf den WM-Fight hat sie sich beim Verein Gorilla Boxing vorbereitet. Unterstützt wird sie von den Boxtrainern Johann Senfter und Brane Radosavlijevic. Im Konditionsbereich wird sie von Dominik Schmidt betreut.
Foto: Ulrik Hölzel

Nach dem Wirtschaftsstudium hat sie zehn Jahre für ein internationales Pharma-Unternehmen gearbeitet. Mit ihrer spät entdeckten Leidenschaft wuchs aber der Ehrgeiz, "einmal im Leben einen richtigen Kampf zu bestreiten". Sie schloss sich einem Boxklub an und trainierte ein Jahr lang zweimal täglich. Ihren Premierenkampf 2010 hat sie verloren. "Danach trennt sich die Spreu vom Weizen. Manche schmeißen alles hin, weil sie glauben, nicht dafür geeignet zu sein. Andere wie ich sagen sich: jetzt erst recht." Und sie hängte sich noch mehr rein. "Wenn du nämlich nicht wirklich fit bist, dann wirst du einfach vermöbelt."

Als Profi nur Siege

2011 gewann sie nach der Aufnahme des Frauenboxens ins Olympia-Programm in der 60-kg-Klasse den erstmals vergebenen Titel "Österreichische Staatsmeisterin". Ende 2012 wechselte sie ins Profilager und avancierte zwei Jahre später erstmals zur Weltmeisterin. Als Profi hat sie bis einschließlich Samstag sämtliche ihrer 18 WM-Fights (sieben durch K. o.) gewonnen. Olympia war insofern kein Thema, als sie mit 35 bei der Premiere in London 2012 an der Altersgrenze scheiterte.

Yoga und Walzer

Boxen ist für die zertifizierte Yogalehrerin Wesner, die auch im ORF-Yoga Magazin zu sehen war, die Nummer eins. Mit ihrem Partner frönt sie aber wieder vermehrt dem Tanzsport – beim ältesten Tanzsportverein Wiens, TSK Schwarz-Weiß, wo auch der amtierende Dancing Star Danilo Campisi und Profitänzerin Julia Burghardt engagiert sind. Die "Werkzeugbox Yoga" nützt sie vorwiegend "zum Dehnen".

Nach Dancing Stars verspürte sie im Ring "einen locker-flockigen Flow", hatte die "beste Ausdauer ever". Daher möchte sie das Tanzen intensivieren, zumal es auch bezüglich Koordination "super" sei. Wesner fände Tanzunterricht als Schulfach schlau, ist sich aber der Ressentiments bewusst. "Unsere Kultur ist für Tanzsport nicht gerade förderlich. Teenager, speziell junge Burschen, genieren sich. Dabei müssten im Walzerland eigentlich alle in der Schule Walzer lernen."

Nicole Wesner hat nach langer Boxpause ihre WM-Titel nach WIBF- und GBU-Version 2022 verloren. Am Samstag verteidigt sie ihren WBF-Titel bei der Bounce Fight Night in Wien.
Foto: Kay Uwe Fischer

Vom Boxen könne sie hierzulande trotz Sponsoren nicht leben, großes Geld sei in den USA und England zu verdienen. Ihren Sport finanziert sie mit Jobs als Vortragende "bei Unternehmen, die ungewöhnliche, herausfordernde Ziele haben". Damit kennt sich Wesner aus: "Bei mir haben auch nicht alle ‚Hurra‘ geschrien, als ich mit dem Boxen begann." Mittlerweile habe sich viel zum Positiven verändert, das Niveau sei gestiegen. Und Frauen boxen vermehrt auf großen Bühnen. "Je besser sie werden, umso mehr Fans kommen und umso mehr verdienen sie hoffentlich. Das Frauenboxen ist in einer Aufwärtsspirale."

Kohlenhydrate und Mythos

Für Wesner ist die Ernährung ein großes Thema, sie hat viel experimentiert. Als sie für ihren ersten Kampf abnehmen musste, sei sie in die Low-Carb-Falle getreten. "Alle Leute glauben, man darf keine Kohlenhydrate mehr essen, wenn man abnehmen will. Das ist ein Mythos." Also wechselte sie von einem ins andere Extrem. "Ich habe mich dreieinhalb Jahre nur von Obst ernährt." Damals fühlte sie sich "extrem energiegeladen", hatte ein "super Gewicht" und das Gefühl, sie könnte "Bäume ausreißen. Mit Datteln und Bananen bin ich Weltmeisterin geworden."

Damals sei ihr zugute gekommen, dass sie Single gewesen ist. In einer Beziehung wären bei derartiger Ernährung Konflikte wohl vorprogrammiert. Dabei machte Wesner sehr wohl auch Ausnahmen, etwa wenn sie zu einem Essen eingeladen wurde. "Da hatte ich meine Bananen nicht dabei."

Obst und Gemüse

Mittlerweile ernährt sie sich vorwiegend basisch – mit viel Obst und Gemüse. "Das ist das gesündeste Fast Food. Entzündungen entstehen immer im sauren Milieu." Nach Jahren der Extreme habe sie aber festgestellt, "dass die Wahrheit in der gesunden Mitte liegt". (Thomas Hirner, 1.4.2023)