Walzer war einmal Pop. Auch wenn vor mehr als hundert Jahren vieles anders hieß und der "Walzerkönig" Johann Strauß jetzt wohl als "King of Waltz" gelabelt würde. Die Schwestern Wiesenthal waren ebenfalls Pop, und das Cabaret Fledermaus, in dem das international gefeierte Tanztrio 1908 erstmals auftrat, entsprach einem Club.
1957 von Gerhard Bronner neu gegründet, existiert es heute noch, und viele Nighthawks kennen seine Clubnights nur zu gut.
Eine der Schwestern wurde zum Star des frühen freien Tanzes in Wien. Kaum war sie im Ballett der Wiener Hofoper zur "Koryphäe" ernannt, gab es Querelen, und Grete Wiesenthal sagte laut Servus zur ehrwürdigen Institution. Der Stil der Wiesenthals war damals völlig neu: im Gegensatz zu traditionellen Ballerinen fließend leicht und ungezwungen.
Wie die Kunst der Grete Wiesenthal, die vor dem Ersten Weltkrieg eine erfolgreiche Solokarriere startete, im Original ausgesehen hat, muss mangels filmischer Dokumentation heute mühsam rekonstruiert werden. Das Lebendige Tanzarchiv Wien unter der Leitung von Andrea Amort hat’s angepackt und präsentiert das Ergebnis jetzt als mehrteiligen Tanzabend im Brut-Theater.
Wieder lebendig
Vier Tänzerinnen von heute machen Wiesenthal wieder lebendig, und sie testen aus, wie sich ihr einst revolutionärer Tanz nach gegenwärtigen Maßstäben weiterentwickeln lässt. Für das Publikum ist das eine ästhetische Achterbahn. Fans der reinen Rekonstruktion werden von den experimentellen Arbeiten herausgefordert, der zeitgenössische Blick misstraut dem den "originalen" Tänzen nachempfundenen Stil.
Als Highlights unter den sechs Stücken im Programm zeigen sich Eva-Maria Schaller und Lea Karnutsch. Die brillante Tänzerin Schaller präsentiert ihre beiden Soli mit Leichtigkeit, Sicherheit und Verve. In Allegretto zu Beethoven und Ende/ Anfang, Der Wind zu einer Komposition von Franz Schreker passt einfach alles, vom Tanz über die Musik bis hin zum Licht.
Sektflöte in der Hand
Karnutsch wiederum kennt sichtlich keine Angst vor Risiken. Zum Auftakt des Abends in Wein, Weib und Gesang tritt sie als Gespenst der Grete Wiesenthal auf, in fließend langem Kleid, mit totenbleichem Gesicht und einer Sektflöte in der Hand. Dass das Glas aus Plastik ist, fällt erst auf, als sie es irgendwann wegschleudert – vielleicht, um den Titel dieses Stücks von 1922 zu ironisieren.
Ihren eigentlichen Knaller liefert Lea Karnutsch aber in einem eigenen Solo, das die Weiterentwicklung der Wiesenthal’schen Tanztechnik bis zum Äußersten treibt und so nachweist, dass sich mit einiger Radikalität aus historischem Material definitiv heutige Positionen generieren lassen.
Trotz dieser Höhepunkte hat dieser Tanzabend neben seinem angestrengten Titel Glückselig. War gestern, oder? auch einige weitere Schwächen. Dazu gehören die Drehmomente genannten Überleitungen oder das allzu bescheidene Schlussstück zu Soap&Skins wunderbarer Interpretation von What a Wonderful World. Aber eine verschärfte "Reworked Version" könnte diesen interessanten Abend in ein wahres Glanzstück verwandeln.
(Helmut Ploebst, 31.3.2023)