Früher war vom "ewigen Eis" die Rede, inzwischen ist klar, dass die Alpengletscher ein Ablaufdatum haben. In der Periode 2021/2022 gab es eine Rekordschmelze. Der jährliche Gletscherbericht des Österreichischen Alpenvereins (ÖAV) berichtet von einem durchschnittlichen Längenverlust von 28,7 Metern. Verantwortlich war eine Kombination aus hohen Temperaturen und geringen Niederschlagsmengen. Die ÖAV-Verantwortlichen forderten die Politik zum Handeln auf.

Ein Team des Alpenvereins bei Messungen auf der Moräne des Pasterzengletschers.
Foto: APA/ALPENVEREIN/ALEXANDER DORIC

Die traurigen "Top 3" der stärksten Rückgänge wurden am Schlatenkees in der Tiroler Venedigergruppe (minus 89,5 Meter), der Kärntner Pasterze in der Glocknergruppe (minus 87,4 Meter) und am Diemferner in den Ötztaler Alpen (minus 84,3 Meter) verzeichnet. Eingeteilt nach Bundesländern hatte auch hier der Schlatenkees die Nase vorn, gefolgt von der Pasterze und dem Schmiedingerkees in Salzburg mit einem Rückgang um 62,6 Meter. Wie Gerhard Lieb vom Alpenverein-Gletschermessdienst berichtete, ist die "massive Entgletscherung" in den österreichischen Alpen aber überall zu beobachten. Der Rückgang um 28,7 Meter sei eine "eindrucksvolle Zahl" und bedeutet das 2,6-Fache im Vergleich zum Jahr davor.

Plus vier Grad im Juni

Das besonders "ungünstige Jahr" gehe auf die Witterungsbedingungen zurück, erklärte Andreas Kellerer-Pirklbauer, der ebenfalls führend beim ÖAV-Gletschermessdienst und wie Lieb hauptberuflich am Institut für Geografie und Raumforschung an der Uni Graz tätig ist. Insgesamt war die untersuchte Periode um 1,4 Grad zu warm, zudem gab es um 12,3 Prozent weniger Niederschlag. Der Juni sei dabei mit plus vier Grad "ein Wahnsinn" gewesen, der September brachte noch ein "gutes Ende", der "etwas zu kühl und deutlich niederschlagsreicher" war.

"Geht die Entgletscherung so weiter, dann könnte Österreich um das Jahr 2075 weitgehend gletscherfrei sein", wagte Kellerer-Pirklbauer eine Prognose für die Zukunft. Aktuell leben die Gletscher nämlich "nur mehr von den Eisreserven der Vergangenheit". Der Blick auf das aktuelle Haushaltsjahr stimmte den Wissenschafter ebenfalls nachdenklich, nachdem bisher sehr wenig Niederschlag gefallen war. Allerdings sei der Winter für die Gletscher noch nicht vorbei, zudem sei der Sommer für die Schmelze ausschlaggebend.

Eine Aufstellung der Gletscher mit dem stärksten Rückgang.
Foto: APA

Lieb machte darüber hinaus darauf aufmerksam, dass Wassermangel künftig ein immer stärkeres Thema sein werde. "Die Gletscherspende, die jetzt durch eine verstärkte Schmelze in die Flüsse fließt, bringt noch ein gewisses Plus" und würde in Dürreperioden aushelfen. "Wassersparen wird gerade im Sommer ein Gebot der Stunde werden." Allerdings werde die Zukunft des Niederschlags ausschlaggebender sein, merkte er an.

Aufrütteln der Politik

Für Kellerer-Pirklbauer sollte der Bericht die Politik "aufrütteln", denn "der Hut brennt". "Mehr können wir hier wirklich nicht mehr erzählen, da muss man handeln", sagte der Wissenschafter, der die Gletscherschmelze und den Klimawandel als vom Menschen "massiv verstärkt" bezeichnete. Dem schloss sich auch Alpenverein-Vizepräsidentin Ingrid Hayek an und übte gleichzeitig Kritik an ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer, der zuletzt von Österreich als "Autoland schlechthin" gesprochen hatte. "Österreich ist zwar heute ein Autoland, aber als 'Eigenschaft' kann ich dem nicht zustimmen. Weil Österreich ist vor 100 Jahren kein Autoland gewesen und wird in 100 Jahren kein Autoland mehr sein. Das ist nicht in Stein gemeißelt", argumentierte Hayek.

Was von der Pasterze auf dem Großglockner übrig ist.
Foto: APA/G.K. LIEB

"Noch liegen die Gletscher nicht auf der Palliativstation, sondern haben noch gute Jahre vor sich", stellte Hayek einen Vergleich zur Medizin an. "Genießen wir, dass sie noch da sind, aber tragen wir nicht dazu bei, dass ihr Umfeld noch schneller gestört wird", sagte Hayek auch in Hinblick auf geplante Gletscherskigebietserweiterungen am Pitztaler und Kaunertaler Gletscher, gegen die sich der Alpenverein und weitere alpine Vereine vehement ausgesprochen hatten. "Schließlich vermarkten wir unser Land mit diesen wunderbaren weißen Gletschern im Hintergrund", stellte Hayek fest.

Gletscherbeobachter des Alpenvereins

Der Gletscherbericht des Alpenvereins dokumentiert seit 132 Jahren jedes Jahr die heimischen Gletscher. Die Messungen unternehmen ehrenamtliche Gletschermesser des Alpenvereins. 89 Gletscher in zwölf Gebirgsgruppen werden so untersucht. Die dabei erhobenen klimarelevanten Daten fließen in internationale Datenbanken wie das World Glacier Monitoring Service (WGMS). Die Bedingungen für die Beobachtung werden aber durch den Rückzug der Gletscher schwieriger. Übrig bleiben meist lockerer, steiler Schutt und felsiges Gelände. Bei Gletschern wie dem Bieltalferner in der Silvrettagruppe musste die Beobachtung sogar eingestellt werden. (APA, red, 31.3.2023)