Die Choreografin Elisabeth Schilling zeigt die Pianistin Cathy Krier sowie drei Tänzerinnen und zwei Tänzer vom Feinsten in einem gegenwartsästhetisch überraschenden Stück.
Foto: Bohumil Kostohryz

Die Bandbreite einer großen Kultur ist schwer zu überblicken, weil sich in ihrer Gesamtdynamik unterschiedliche Filterblasen entwickeln, die einander spinnefeind sein können. Das gilt auch für die "nordwestliche" Kultur, die seit Jahrzehnten auch Phasen der Selbstkritik in ihre ambivalente Diversität einbaut. Zurzeit macht – nach jahrzehntelanger Partytrunkenheit – ein Moralkater Furore.

Es wird sich zeigen, wie weit die auch als bigott kritisierte Läuterung geht. Das Osterfestival Tirol jedenfalls zeigt sich skeptisch gegenüber diesem Kater und arbeitet lieber mit den künstlerischen Potenzialen unterhalb der von Entrüstungen aufgepeitschten Oberflächen. Von dort hat Intendantin Hannah Crepaz für das Publikum ihrer aktuellen Festival-Ausgabe unter anderem die Compagnie Making Dances geholt.

Radikal, nicht aufgeweicht

Deren Choreografin Elisabeth Schilling (35) zeigt die fabelhafte Pianistin Cathy Krier sowie drei Tänzerinnen und zwei Tänzer vom Feinsten in einem gegenwartsästhetisch überraschenden Stück: Hear Eyes Move auf Basis von Etüden des Neue-Musik-Komponisten György Ligeti. Darin verbindet sich dessen Neue Musik mit neomodernem Tanz. So etwas wirkt heute wie eine Herausforderung gegenüber jenen seit rund einem Jahrzehnt bevorzugten Werken, die antivirtuos, performanceorientiert und reich an deutlichen Botschaften sind.

Genau diese Wirkung macht Hear Eyes Move, Untertitel Dances with Ligeti, jetzt zum Statement. Zu sehen ist da zwar ein formal ausgeklügeltes Zusammenspiel von Musik und Tanz, doch dieses folgt offenbar der Voraussetzung, dass die Persönlichkeiten der Tänzerinnen und Tänzer nicht wegabstrahiert, also hinter die choreografische Bewegungskomposition verbannt werden dürfen.

Ausgeklügeltes Zusammenspiel von Musik und Tanz: Die Persönlichkeiten der Tänzerinnen und Tänzer werden nicht wegabstrahiert.
Foto: Bohumil Kostohryz

Außerdem ist die körperliche Kommunikation im Tanz mit Ligetis Klangstrukturen alles andere als ein Kinderspiel. Doch genauso wenig wie in kalte Abstraktion flüchten sich die Tanzenden während Schillings gesamter, sehr komplexer und sensibler Choreografie bei Hear Eyes Move nie ins Pathetische. Sie weichen also die Musik nicht auf, sondern testen in deren radikalen Sounds den Tanz als Möglichkeit zur Darstellung einer guten Gemeinschaft noch einmal ganz neu aus.

Genau zur richtigen Zeit

Diese künstlerische Brücke über die Gräben der Gegenwart kommt vielleicht genau zur richtigen Zeit. Denn immer noch glauben viele in den performativen Künsten, eine bestimmte (Anti-)Ästhetik allein könnte "progressiv" sein, und bis heute werden nach Opas und Omas wettbewerbsorientiertem Vorbild unterschiedliche künstlerische Formen schrill gegeneinander ausgespielt.

Man wird wohl verstehen müssen, dass dies immer konservativer, ausschließender und eingrenzender wirkt und dass Wechselwirkungen zwischen den ästhetischen Gegensätzen von gestern das Denken der Kunst von morgen bestimmen könnten. Hear Eyes Move. Dances with Ligeti wäre schon einmal ein Musterbeispiel dafür. (Helmut Ploebst, 3.4.2023)