Ein Musical jenseits knallbunter Klischees: Ruth Maier (Jasmina Sakr) und Gunvor Hofmo (Tamara Pascual) als berührendes Liebespaar.
Foto: Reiner Riedler

Garstig ist es am See. Der Wind bedrängt den friedliebenden Passanten in aufdringlicher Weise, Schiffe und Schwäne geraten beim Anlegen schwer ins Schwanken. Zudem reichlich Regen: Das in Ostösterreich schon fast in Vergessenheit geratene Wetterphänomen ist in Gmunden noch voll da.

Garstig, nein: Grauenhaft endete das Leben von Ruth Maier. Der Wienerin mit jüdischen Wurzeln gelang 1939 die Flucht vor den Nationalsozialisten. In Norwegen wurde Maier drei Jahre lang Schutz gewährt, im Alter von 22 Jahren wurde sie von Oslo nach Auschwitz deportiert und in der Gaskammer ermordet. Maier hat ihre Lebensgeschichte in ihren Tagebüchern und Briefen festgehalten, in Norwegen sind ihre Schriften Schullektüre.

Wie passt das zusammen?

Kann man über einen Lebensweg, der in einer irdischen Hölle endet, ein Musical schreiben? In Gmunden ist man der Meinung: Man kann das und soll das auch machen. Markus Olzinger und Elisabeth Sikora, das Leitungspaar des Musical-Frühlings, möchten erreichen, dass auch junge Menschen die Geschichte dieses Teenagers, dieser jungen Frau heute erfahren können.

Eine couragierte Unternehmung. Es soll Millionenstädte geben, die in rätselhafter Beharrlichkeit jedes Jahr frohgemut Millionen für das fantasieloseste Musicalprogramm verpulvern. In Gmunden ist man klüger, sensibler und wagemutiger. Und reist auf den Schwingen der leichten Musentochter Musical zurück in eine schwere Zeit.

Virtuos ohne Zucker

Die Musik von Gisle Kverndokk ist dabei wie ein steter Fluss, der die Protagonisten mit sich trägt. Der Norweger komponiert gefällige Musik, die aber nie ins Zuckersüße kippt; auch Dissonanzen haben ihre Existenzberechtigung. Ins lange, ariose Töneband sind auch Solonummern, Duette, Ensembles oder kurze Chöre auf natürliche Weise eingeflochten. Im Orchestergräbchen des Stadttheaters Gmunden musiziert ein zehnköpfiges Ensemble (Leitung: Jürgen Goriup) auf echten Instrumenten. Schön.

Das Erzähltempo des Librettos (von Kverndokk und Aksel-Otto Bull) ist hoch, die Lebensstationen der Protagonistin ziehen flugs vorbei: Ruths erste Verliebtheiten als Teenager, der crescendierende Naziterror in Wien, die Aufnahme in Norwegen beim Ehepaar Strøm. Dann die große Liebe zu Gunvor Hofmo, der späteren Autorin, Maiers Nervenzusammenbruch, Erholung beim Trampen durch Norwegen. Und schließlich die Verhaftung Ende 1942 und die Deportation nach Auschwitz.

Spielfeld ohne Übertreibungen

Markus Olzinger hat dafür ein Bühnenbild ersonnen, das mit nur zwei Podesten, semitransparenten Vorhängen und Projektionen für Abwechslung sorgt. Auf diesem Spielfeld inszenieren Olzinger & Sikora das Geschehen auf eine für Musicals (leider) komplett unübliche Weise: natürlich, ohne Übertreibungen und mit präziser, teils hochvirtuoser Schauspielkunst.

Allein für die paar Sätze, die Altmeister Yngve Gasoy-Romdal als Hermann Thimig zu singen hat, müsste man nach Gmunden reisen: Feinsinniger kann man den seinerzeitigen Burgtheaterton und das Timbre eines 30-Jahre-Tenors kaum verbinden. Wunderschön und makellos auch die Gesangsleistungen von Jasmina Sakr als Ruth und Tamara Pascual als Gunvor Hofmo. Berührender als die beiden kann man ein Liebespaar kaum spielen.

Was man über Jahrzehnte insgeheim vermutet hatte, bestätigt sich nun am Ufer des Traunsees: Es ist also doch möglich, in einem Musical lebensnah und differenziert zu agieren, jenseits von knallbunten Klischees und platten Stereotypen. Und dort kammermusikalische Klänge zu hören, die nicht vom Computer aufgepumpt sind. Jubel im Stadttheater für die Welturaufführung, eine Kooperation mit der New York Opera Society. Das Referenzprojekt der Kulturhauptstadt Bad Ischl Salzkammergut 2024 kann auf jeden Fall als ein stimmiges Präludium zu diesem wahrgenommen werden. (Stefan Ender, 2.4.2023)