Auch dieses Wochenende demonstrierten wieder tausende Israelis gegen die Justizreform. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein.

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Justizreform, Rechtsruck, Proteste: In Israel herrscht seit Wochen Krisenstimmung. Doch was passiert in dem Land eigentlich? Warum gehen so viele Menschen auf die Straße? Israels historischer Moment wird im Folgenden möglichst einfach erklärt.

Frage: Seit drei Monaten gehen so viele Menschen auf die Straße wie noch nie. Was macht sie so wütend?

Antwort: Es ist eine akute Angst, die die Menschen antreibt: Viele der Demonstrierenden äußern die Sorge, dass das Land an der Kippe steht. In einem umfangreichen Paket, das die Regierung "Justizreform" nennt, befinden sich viele einzelne Gesetze, die alle einem Ziel dienen: möglichst viel Macht für die Regierenden, wenig Einfluss für die anderen Kräfte im Staat. Viele Demonstranten fürchten, dass die Regierung das Ende der Demokratie einleiten will.

Frage: Die Israelis haben diese rechten Koalitionsparteien doch vor erst knapp fünf Monaten gewählt. Sind die Demonstranten nicht einfach enttäuschte Linke, die nicht wahrhaben wollen, dass sie die Wahlen verloren haben?

Antwort: An den Massenprotesten beteiligen sich Menschen ganz unterschiedlicher Weltanschauungen: Konservative, Religiöse, Säkulare, Linke, Offiziere der Armee, Hightech-Manager. Einige von ihnen haben früher auch eine der Regierungsparteien gewählt oder waren sogar selbst Politiker dieser Parteien. Vor allem die Partei von Premierminister Benjamin Netanjahu, der Likud, hat sich im Lauf der Zeit sehr stark nach rechts bewegt und kritische Stimmen in der Partei immer weniger geduldet. Manche dieser Ex-Netanjahu-Verbündeten befürchten, dass Netanjahu nun auch im ganzen Land Kritiker mundtot machen will – und zu diesen Kritikern zählt auch die unabhängige Justiz. Dass der Ministerpräsident selbst in einem Korruptionsverfahren vor Gericht steht und zugleich die Justiz politisch bekämpfen will, halten sie für eine höchst gefährliche Kombination. Mittlerweile dürften auch viele jener Israelis, die noch vor fünf Monaten Netanjahu gewählt haben, anderer Meinung sein: Laut Umfragen lehnt eine Mehrheit der Likud-Wähler die Justizreform ab. Ihnen war vor der Wahl offenbar nicht klar gewesen, wie weit Netanjahu gehen würde, wenn die rechtsextremen Kräfte in der Koalition Druck ausüben.

Frage: Warum werden die Pläne als so bedrohlich betrachtet?

Antwort: Stellt man sich Israels Demokratie als ein Haus aus vielen Bausteinen vor, dann plant die Koalition, einen großen Teil der untersten Bausteine herauszubrechen, während sie oben ausbaut. Früher oder später wird dieses Gebäude zusammenbrechen, weil ihm das Fundament fehlt. In der israelischen Demokratie ist dieses Fundament die unabhängige Justiz. Der Oberste Gerichtshof ist die einzige Kontrollinstanz, die korrigierend eingreift, wenn die Regierung Grundrechte verletzt. Die Regierung will den Obersten Gerichtshof de facto ausschalten.

Frage: Die Regierung will also die Rolle der Justiz ändern. Warum soll deswegen schon die ganze Demokratie auf der Kippe stehen?

Antwort: Israel ist mit anderen Demokratien nicht vergleichbar. Die Regierung hat hier viel mehr Macht als etwa in Österreich: Sie hat die Mehrheit im Parlament, die Opposition hat aber kaum Kontrollinstrumente. Es gibt in Israel zudem keine Landtage, fast alles wird zentral entschieden. Israels Regierung muss bei gravierenden Veränderungen auch keine verpflichtenden Volksabstimmungen abhalten, wie es zum Beispiel in Österreich vor dem Beitritt zur EU der Fall war. Vor allem aber gibt es keine geschriebene Verfassung, also keine klaren Grundregeln, an die sich auch die Regierung halten muss. In Österreich wäre es zum Beispiel nicht möglich, dass die Koalition einfach beschließt, die Todesstrafe wieder einzuführen, wie zuletzt in Israel geschehen. Der Schutz des menschlichen Lebens ist von der Verfassung garantiert und kann auch nicht einfach von einer regierenden Mehrheit für ungültig erklärt werden. In Israel ist das anders.

Frage: Warum hat Israel keine Verfassung?

Antwort: Bei der Staatsgründung am 14. Mai 1948 war man noch fest entschlossen, eine Verfassung zu erstellen, dazu kam es aber nicht. Der junge Staat hatte andere Sorgen – etwa einen neun Monate andauernden Krieg. Zweitens war das Land gespalten: in religiöse Juden einerseits, die ihr Leben nicht einer säkularen Verfassung unterwerfen wollten, und in säkulare Juden andererseits, die frei von religiösen Geboten leben wollen. Dieser Konflikt hält bis heute an. Es wäre aber zu einfach, zu sagen, dass es sich aktuell nur um einen Konflikt zwischen Religiösen und Säkularen handelte: Im Anti-Regierung-Lager demonstrieren auch Religiöse, dem Pro-Regierung-Lager gehören auch Säkulare an, die den Obersten Gerichtshof als Hort einer abgehobenen Elite sehen. Es handelt sich dabei vor allem um sephardische Juden, die jahrzehntelang diskriminiert wurden, auch durch Israels Justiz. Sie halten das Höchstgericht für eine Institution, die von aschkenasischen – also europäischstämmigen – Juden dominiert ist. Das ist heute zwar nicht mehr der Fall, in den Köpfen vieler Menschen ist diese Realität aber noch nicht angekommen.

Frage: Die Regierung hat ja verkündet, dass sie ihre Pläne vorerst nicht weiterverfolgen will. Warum wird trotzdem weiter demonstriert?

Antwort: Die Regierung hat selbst Zweifel gestreut, dass sie tatsächlich an einem Kompromiss interessiert ist. Einige Minister und auch Netanjahu selbst haben betont, dass sie sich nicht von ihrem Kurs abbringen lassen wollen. Justizminister Jariv Levin soll sogar die Parteibasis aufgerufen haben, sich den rechten Demonstrationen anzuschließen, die seit kurzem an Fahrt aufnehmen. Unter diesen rechten Pro-Regierung-Demos finden sich auch rechtsradikale, bewaffnete Mobs, die gewaltsam gegen Anti-Regierung-Demonstranten, israelische Araber und Journalisten vorgehen. Zugleich prescht die Regierung mit weiteren antidemokratischen Maßnahmen vor: Israels Minister für Nationale Sicherheit, der mehrfach verurteilte radikale Siedler Itamar Ben-Gvir, soll eine eigene bewaffnete Miliz erhalten, die er "Nationalgarde" nennt. Diese uniformierten Einheiten sollen nicht dem Polizeikommando unterstellt werden, sondern direkt auf Gvir hören. Israels Polizei und Geheimdienste warnen eindringlich vor diesem Vorhaben. Auch für die Demonstranten ist die geplante Miliz ein Grund mehr, die Proteste jetzt nicht einzustellen. (FRAGE & ANTWORT: Maria Sterkl aus Jerusalem, 3.4.2023)