Die russische Wirtschaft ist im vergangenen Jahr Achterbahn gefahren. Lange Zeit sah es dabei so aus, als sollten jene recht behalten, die von der Wirkungslosigkeit der gegen Russland erlassenen Sanktionen überzeugt waren. Doch sie dürften sich geirrt haben. Unmittelbar nach Kriegsausbruch im Februar 2022 ging es für das Land erst einmal bergab.

Die Landeswährung Rubel verlor dramatisch an Wert, hunderte westliche Unternehmen zogen ihr Kapital über Nacht aus Russland ab. Um einen Kollaps des Bankensystems zu verhindern, musste die Zentralbank die Zinsen auf über 20 Prozent anheben. Und um einen Ansturm auf die Banken zu verhindern, wurde das Finanzsystem in eine Zwangspause geschickt.

Doch der Notenbank in Moskau gelang es, die Finanzmärkte zu stabilisieren. Es ging wieder bergauf. Der Rubel erholte sich. Während in den ersten Kriegstagen Ökonomen im Westen mit einem Einbruch der russischen Wirtschaft von acht bis 15 Prozent als Folge der Sanktionen gerechnet hatten, schrumpfte die Wirtschaftskraft des Landes 2022 tatsächlich gerade um 2,5 Prozent. Der Konsum blieb stabil. Die Erzählung lautete seither: Russlands Wirtschaft war gut auf den Krieg vorbereitet. Die Ökonomen von Staatschef Wladimir Putin seien fähiger als seine Generäle.

Seit den vergangenen Wochen mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Geschichte von der widerstandsfähigen russischen Wirtschaft wenn schon nicht neu geschrieben, so doch ergänzt werden muss. Ironischerweise sorgen dabei jene Faktoren, die Russland geholfen haben, das erste Kriegsjahr gut zu überstehen, dafür, dass das zweite Kriegsjahr für die Russen schwieriger wird. Davor warnt inzwischen niemand Geringerer als Putin selbst.

War da was von wegen Krieg? Touristen genießen das frühlingshafte Wetter in der russischen Hauptstadt Moskau im März.
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Während er bisher betont hatte, dass die westlichen Sanktionen dem Land nichts anhaben könnten, gestand er vergangene Woche öffentlich ein, dass die Zeiten härter werden. "Die gegen die russische Wirtschaft verhängten Sanktionen könnten sich mittelfristig wirklich negativ auf sie auswirken", warnte der Staatschef bei einer im TV übertragenen Sitzung der Regierung. Warum der Kurswechsel?

Laut dem Russland-Experten der Uni Innsbruck, Gerhard Mangott, kann es nur eine Erklärung dafür geben: Da größere Verwerfungen auf das Land zu kommen, bereitet Putin die Menschen darauf vor. Um zu verstehen, was sich da zusammenbraut, ist ein Blick auf die Entwicklung seit Kriegsausbruch notwendig. Nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine haben die USA, die EU und mit ihnen verbündete Staaten wie Kanada und Japan mehr als 14.000 Sanktionsmaßnahmen gegen Russlands Wirtschaft erlassen, wie der Ökonom Vasily Astrov vom Wiener Osteuropainstitut Wiiw vorrechnet. Die Maßnahmen reichen von weitreichenden Ausfuhrverboten im Technologiesektor bis hin zur Sanktionierung zahlreicher Einzelpersonen und Unternehmen. Russlands Banken wurden vom internationalen Zahlungsverkehr abgekoppelt.

Das Experiment

Das Ganze ist ein großes Experiment. Denn hier wird erstmals eine der großen Volkswirtschaften der Welt mit so umfassenden Sanktionen belegt. Was ging aus westlicher Sicht schief dabei? Da Russlands Energieexporte nicht gebremst wurden und die Marktpreise stark anzogen, konnte Russland seine Einnahmen aus Rohstoffverkäufen sprunghaft steigern. Allein mit Öl und Gas verdiente Moskau 345 Milliarden Dollar (317 Milliarden Euro) im vergangenen Jahr. Das ist fast um die Hälfte mehr als im Jahr davor. Die Importbeschränkungen des Westens führten zeitgleich dazu, dass Russlands Unternehmen und Bürger viel weniger Güter aus dem Ausland erwerben konnten.

In der Folge erzielte das Land einen gigantischen Exportüberschuss: Russland hat deutlich mehr Geld vom Rest der Welt bekommen, als es dorthin ausbezahlt hat. Wie eine Gruppe von US-amerikanischen und russischen Ökonomen im Rahmen einer Analyse auf der Internetplattform Re:Russia zeigen, hat der Staat diesen gigantischen Geldüberschuss genutzt und in Wirtschaft und Finanzsystem gepumpt. Der Kapitalabzug westlicher Investoren wurden damit mehr als wettgemacht, der Rubel stabilisiert. Der Staat konnte die Nachfrage stützen, Beihilfen ausschütten.

Doch nun brechen dem Staat die Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft weg. Allein im Jänner lagen sie um ein Drittel unter dem Vorjahreswert, während die Ausgaben fast um zwei Drittel höher waren. Die Entwicklung dürfte eine Folge davon sein, dass sich die Europäer mehr und mehr unabhängig von russischen Energielieferungen gemacht haben und auf andere Staaten Druck ausüben, Russlands Öl nur mit Abschlägen zu kaufen.

Wenn der große Überschuss durch Rohstoffverkäufe schwinde, müsse sich Moskau entscheiden: Entweder beginnt das Land mit harten Einsparungen, oder die Notenbank finanziert die Ausgaben, was den Inflationsdruck erhöhen würde, schreibt der Ökonom Oleg Itskhoki von der University of California auf der erwähnten Plattform Re:Russia.

Das ist nicht das einzige Problem des Landes. Die stabile Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) täuscht über eine Umstellung hinweg: Im Land werden mehr militärische Güter produziert, dafür weniger zivile. Die Produktion von Autos und Autoteilen lag im Dezember 2022 um 50 Prozent unter dem Vorjahreswert, weil ausländische Komponenten fehlen. Der russische Lada-Produzent Awto WAS hat deshalb gerade angekündigt, seine Belegschaft ab Ende Mai für drei Wochen kollektiv in den Urlaub zu schicken. Auch die Medikamentenproduktion ist um 50 Prozent geringer.

Während sich diese Wirtschaftsumstellung im BIP nicht zeigt, werden es Konsumentinnen und Konsumenten mehr und mehr zu spüren bekommen, wenn westliche Produkte fehlen und inländische Mangelware werden. Hinzu kommt, dass viele russische Unternehmen zunehmend über Personalmangel klagen – viele Männer wurden in den Krieg eingezogen oder haben das Land verlassen.

Das erschwert die Hauptaufgabe, vor der die russische Wirtschaft steht, schreibt der Ökonom Branko Milanović. Aufstrebende Länder wie China oder Südkorea haben in der Vergangenheit ihre Industrie vor Importen aus dem Ausland abgeschirmt, um diese technologisch zu entwickeln, bis sie mit dem Rest der Welt mithalten konnte. Russlands Industrie muss nun mangels Zugangs zu westlichen Technologien einen Schritt zurück tun und alte Technologien aus der Sowjetzeit wieder ausgraben und neu beleben.

Da Boeing und Airbus keine Flieger mehr liefern, versucht Russland die Produktion inländischer Flugzeugkomponenten auszubauen. Noch wichtiger für das Land ist es, Technologien zur Förderung von Öl und Gas zu entwickeln, da aus dem Westen nichts mehr kommt. Ob dieser Modernisierungsschub klappt, ist ungewiss, nicht zuletzt, so Milanovic, weil das, was am meisten dafür notwendig ist – Arbeitskräfte, Ingenieure, Wissenschafter – plötzlich Mangelware ist.

Natürlich ist nicht gesagt, dass es für Russlands Wirtschaft in der Achterbahnfahrt nun dauerhaft nach unten geht. Sanktionen verhängt haben nur westliche Staaten. Der größte Teil der Welt handelt mit Russland weiter wie zuvor, darunter Länder wie Indien und China. Damit lassen sich westliche Sanktionen zum Teil umgehen. Wenn die Energiepreise wieder steigen, was bereits in den vergangenen Tagen zum Teil geschehen ist, wird Putin wieder mehr Geld zu verteilen haben. Doch die Kombination aus sinkenden Staatseinnahmen, Problemen bei der Konsumgüterproduktion und fehlenden Arbeitskräften bedeutet, dass es für Putin zunehmend schwierig wird, eine simple Tatsache vor der Bevölkerung zu kaschieren: Das Land befindet sich im Krieg. (András Szigetvari, 4.4.2023)