Kinderzimmer werden mehr oder sogar als einziger Raum geheizt.

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Die Zahl an sich ist schon beachtlich: 368.000 Kinder und Jugendliche in Österreich sind von Armut und Ausgrenzung betroffen. Das sind mehr Menschen, als Linz und Salzburg gemeinsam an Einwohnern haben. Noch wesentlicher als die nackte Zahl der Statistik Austria, die auf EU-weit erhobene Daten über Einkommen und Lebensbedingungen zurückgeht, ist aber die Frage, was Armut im Alltagsleben bedeutet. Und da haben sich die Bedingungen seit Beginn des Ukrainekriegs deutlich verschärft.

Denn 8,6 Prozent Inflationsrate im Vorjahr und die binnen eines Jahres um 37 Prozent gestiegenen Energiekosten machen gerade armutsbetroffenen Familien schwer zu schaffen. Als Folge der steigenden Preise können viele ihre Wohnungen nicht mehr adäquat heizen, wie eine gemeinsame Befragung der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) und der Volkshilfe unter mehr als 100 armutsbetroffenen Eltern ergab. Die Wohnverhältnisse werden dadurch deutlich ungesünder. Neben zu kalten Räumen, die die Anfälligkeit für Infekte erhöhen, kommt es durch vermindertes Heizen auch zu vermehrter Schimmelbildung – was wiederum zu langfristigen gesundheitlichen Folgen wie Asthma-Erkrankungen führen kann.

Wärmen im Einkaufszentrum

Die Studie zeigt zudem, dass armutsbetroffene Menschen aus ihren kalten Wohnungen verstärkt in den öffentlichen Raum ausweichen. Im Winter sind Räume ohne Konsumzwang aber Mangelware, weshalb es viele in Einkaufszentren verschlägt. "Im Sommer gibt es mit öffentlichen Parks mehr Möglichkeiten, sich länger außerhalb der Wohnung aufzuhalten", sagt die Sozialwissenschafterin Hanna Lichtenberger von der Volkshilfe, eine der Studienautorinnen, im Gespräch mit dem STANDARD.

Einkaufszentren würden oft über große Spielbereiche für Kinder im Innenraum verfügen, die armutsbetroffene Familien im Winter stark genützt hätten. Für Jugendliche seien die Einkaufszentren ohnehin beliebte Treffpunkte – auch weil die Flächen zwischen den Geschäften als konsumfreie Räume genützt werden können. "Sie fallen dort kaum auf, und normalerweise fragt sie niemand, was sie machen."

Sparen bei Lebensmitteln und Freizeitaktivitäten

Unter den im Februar und März für die Studie befragten Eltern gaben 58 Prozent an, dass sie wegen der steigenden Heizkosten andere Bedürfnisse ihrer Kinder, etwa Freizeitaktivitäten, Kleidung und Lebensmittel, einschränken. Befragt wurden 103 Eltern von 202 Kindern unter elf Jahren. Sie alle werden im Projekt "Existenzsicherung für armutsbetroffene und armutsgefährdete Kinder und Jugendliche in der Pandemie" der Volkshilfe betreut, das an die 500 Haushalte umfasst.

Repräsentativ für alle armutsbetroffenen Familien in Österreich ist die Studie damit nicht, wie Lichtenberger erklärt. Gerade diese Bevölkerungsgruppe sei mitunter schwer zu befragen. Einerseits wegen Sprachbarrieren, andererseits sei auch soziale Scham ein Faktor. Viele Betroffene schrecken davor zurück, an Studien teilzunehmen. Laut Ernest Aigner von der GÖG liefert die Erhebung dennoch ein recht zuverlässiges Bild von armutsbetroffenen Familien mit nachgewiesenen niedrigen Einkommen.

Ein Viertel der befragten Eltern berichtete von Feuchtigkeit oder Schimmel in der Wohnung. Ein Drittel gab an, dass die Heizung sehr viel Energie verbrauche, und knapp die Hälfte, dass Fenster undicht sind. In drei Vierteln der Haushalte ziehen Eltern ihren Kindern wärmere Kleidung an – mitunter auch für draußen gedachte Winterjacken –, um der Kälte im Wohnraum etwas entgegenzusetzen. Kinderzimmer werden laut der Umfrage häufig stärker beheizt als andere Räume.

Mehr als Einmalzahlungen

Um die Situation zu verbessern, hielte Lichtenberger mehrere politische Maßnahmen für sinnvoll. Einerseits brauche es bei Teuerungshilfen langfristigere Unterstützung statt Einmalzahlungen für Armutsbetroffene. Andererseits sieht sie Bedarf an mehr auch im Winter kostenlos nutzbarer Infrastruktur. Im dänischen Aarhus etwa habe man an die städtische Bücherei einen Turnsaal mit Bastelecke angeschlossen. Solche Modelle könnten auch Vorbild für Österreich sein, sagt die Forscherin. Die Volkshilfe fordert zudem eine Grundsicherung für Kinder, wie in Deutschland aktuell geplant.

Regierungskritik gab es anlässlich der Studie von der Opposition. SPÖ-Sozialsprecher Josef Muchitsch sah politisches Versagen. Kinderarmut sei "ganz besonders in einem reichen Land wie Österreich eine Zumutung". FPÖ-Sozialsprecherin Dagmar Belakowitsch warf ÖVP und Grünen vor, nichts gegen Inflation, steigende Energie- und Lebensmittelpreise zu tun. "Mehr als 70 Jahre Aufbau und soziale Sicherheit" würden vernichtet. (Martin Tschiderer, 3.4.2023)