Dem Frachttransport auf der Schiene im Binnenmarkt fehlt es nicht nur an Interoperabilität, er bleibt generell weit hinter den selbst gesteckten Zielen der EU zurück.

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Wien/Brüssel – Der Titel des Sonderberichts des EU-Rechnungshofs (EURH) zum intermodalen Güterverkehr spricht Bände: "Die EU ist noch weit davon entfernt, den Güterverkehr von der Straße zu holen." Es könnte sich bei dem Attest um eine grobe Untertreibung handeln. Denn es fehlen nicht nur realistische Ziele der EU-Kommission, sondern es laufen die Strategien einiger Mitgliedsländer dem Binnenmarkt teilweise sogar zuwider.

Es sind über weite Strecken vernichtende Zensuren, die der EURH nach Prüfung des Schienen- und Binnenschiffsverkehrs in sechs ausgewählten Ländern verteilte. Ihre selbstgesteckten Ziele für die Verlagerung von Gütertransporten auf die Schiene hat die EU in den vergangenen 30 Jahren glatt verfehlt, in einigen Ländern gar Rückschritte gemacht und Bahnfracht verloren, anstatt wenigstens den Status quo zu halten.

Die Ausgangslage war denkbar schlecht, das tatsächlich beförderte Volumen an Bahnfracht (in Tonnenkilometern) war mit der Finanzkrise 2008/09 dramatisch eingebrochen und seitdem nie wieder auf das Niveau der Jahre 2006 bis 2008 zurückgekommen (siehe Grafik).

Große Ziele, kleine Wirkung

Damit waren die ambitionierten Ziele, die man dessen ungeachtet im EU-Weißbuch Verkehr 2011 festschrieb, perdu – ehe überhaupt Anstalten unternommen wurden, diese auch zu erreichen. Der nächste Schlag kam mit der Pandemie und den damit einhergehenden weltweiten Lieferschwierigkeiten.

Die EU-Kommission und mit ihr die 27 Mitgliedsländer focht dies nicht an. Sie zimmerten 2020 eine "Strategie für nachhaltige und intelligente Mobilität", die wohl auf einem niedrigeren Niveau ansetzte als das Weißbuch 2011, dafür aber bis 2050 noch höher hinaus will.

Das Problem dabei: Die EU-Ziele sind für die Mitgliedsstaaten weder verbindlich noch mit den nationalen Zielen der Mitgliedsstaaten abgestimmt, kritisiert der EURH in seinem Ende März vorgelegten Bericht. Er hat dafür die Verkehrsstrategien von sechs ausgewählten Mitgliedsstaaten untersucht, das Augenmerk lag auf Containerhäfen und Verladepunkten, an denen Fracht auf die Schiene verladen wird. Geprüft wurden neben der EU-Kommission Spanien, Frankreich, Deutschland, Italien, Polen und die Niederlande,

Ambitioniert, aber nicht harmonisiert

Dabei stellte der EURH fest, dass die Ziele der Mitgliedsstaaten teils noch ambitionierter waren als die unrealistischen Ziele der Kommission. Einige Länder wie Polen hatten gar keine Ziele für den intermodalen Verkehr, also verkehrsträgerübergreifende Transporte für Distanzen über 300 Kilometer, etwa Containertransporte von Häfen wie Rotterdam ins Hinterland. Zwar will Warschau den Anteil des intermodalen Schienengüterverkehrs am gesamten Schienengüterverkehr bis 2030 um 75 Prozent erhöhen, die dazugehörigen jährlichen Zuwachsraten waren aus dem Plan aber nicht ableitbar, schreibt der Hof.

Gleiches gilt für die Niederlande, die den Bahnverkehr auf den Ost- und Südostkorridoren bis 2025 um 19 Millionen Tonnen erhöhen will, aber den Weg und die Maßnahmen zu diesem Ziel nicht darlegt.

Frankreich wiederum legte 2021 fest, den Schienengüterverkehr bis 2030 zu verdoppeln, während Spanien den Anteil des Schienengüterverkehrs am gesamten Güterverkehr auf zehn Prozent erhöhen will.

Fehlende Abstimmung

Deutschland legte 2020 fest, dass der Schienengüterverkehr bis 2030 auf ein Viertel (des gesamten Frachtverkehrs) steigen soll. Abgestimmt mit den Zielen der EU waren die untersuchten sechs nationalen Strategien nicht, kritisiert der EURH.

Der Grund: Die EU-Länder rückten die Daten nicht heraus. "Daher kann die Kommission während der Umsetzung nicht bewerten, ob die gemeinsamen Anstrengungen der Mitgliedsstaaten ausreichen, um die übergeordneten EU-Ziele für die Verkehrsverlagerung zu erreichen." Dazu passt, dass eine von der Kommission eigens eingerichtete Website für Terminalbetreiber und Logistikunternehmen zum Austausch von Informationen über mehr als 10.000 Terminalanlagen (vom Vereinigten Königreich bis in die Türkei) und Trassenkapazitäten nicht mit Daten befüllt wurde – nicht einmal von jenen Ländern, die EU-Fördermittel bekamen.

Fehlender Überblick

Unschwer zu erkennen, dass die Kommission keinen Überblick über bestehende und den künftigen Bedarf an Verladeterminals hatte. Dies alles vor dem Hintergrund, dass im Zeitraum 2014 bis 2020 insgesamt rund 1,1 Milliarden Euro in Projekte zur Förderung der Intermodalität fließen. Die Gelder kamen aus dem EU-Regionalfonds (Efre), dem Kohäsionsfonds (KF) sowie dem Programm Connecting Europe (CEF), mit dem die in den 1990er-Jahren konzipierten Transeuropäischen Netze (TEN) einen Schub bekommen sollten.

Zu optimistisch

Zu optimistisch und damit unrealistisch waren laut EURH auch die Schätzungen der EU-Kommission hinsichtlich des Umfangs des Schienen- und Schiffsverkehrs, der benötigt würde, um die hochgesteckten Ziele zu erreichen. Im Weißbuch 2011 etwa ging die EU-Behörde davon aus, dass sich der Schienengüterverkehr zwischen 2005 und 2030 um 60 Prozent erhöhen werde. Bis 2050 ging man gar von einem Zuwachs um 87 Prozent aus. "In Ermangelung neuer politischer Maßnahmen ist ein Eintreten dieser Prognosen jedoch unrealistisch, da der Schienengüterverkehr von 2010 bis 2019 nur um acht Prozent zugenommen hat", schreibt der Hof.

100-Milliarden-Lücke

Der erhoffte Einsatz von 1.500 Meter langen Zügen (statt der erlaubten 740 Meter gemäß TEN-Verordnung) blieb mangels verfügbarer Korridore ebenso eine Illusion wie die Verkürzung der Wartezeiten an den Grenzen wegen Lokführerwechsels oder obligatorisch durchzuführender Bremskontrollen. Es scheitert auch an der Größe der Container (Lichtraumprofil P400), die auf der Bahn im Gegensatz zu 40-Tonnen-Lkws im Binnenmarkt nicht durchgängig befördert werden können. Dazwischen liegt gemäß der Folgenabschätzung in der Strategie 2020 eine Investitionslücke von hundert Milliarden Euro (im Zeitraum 2021 bis 2030), die erst geschlossen werden müsste, damit die Prognosen eintreten können.

Der EURH legt damit seinen Finger in eine offene Wunde. Mitgliedsstaaten wie Österreich investieren Jahr für Jahr Milliarden in den Bahnausbau, der Modal Split, also der Anteil der Schiene am Gesamtgüterverkehr, stagniert aber nicht nur, er schrumpft. Im alpenquerenden Güterverkehr in Österreich liegt der Modal Split nur noch bei 26 Prozent.

Systematische Kontrollen, mit denen überprüft wurde, ob die nationalen Verkehrsverlagerungsziele mit jenen auf EU-Ebene übereinstimmen, führte die Kommission übrigens nicht durch. Mangels Vergleichbarkeit der Daten zum intermodalen Güterverkehr hätte dies wohl nicht viel gebracht, die Überwachung sei "deutlich eingeschränkt", schreibt der Rechnungshof.

Neuer Rechtsrahmen kommt

In ihrer Stellungnahme räumt die EU-Kommission ein, dass der bestehende Rahmen für den intermodalen Verkehr überarbeitet und in ein wirksames Instrument umgewandelt werden muss. Insbesondere das vierte Eisenbahnpaket aus dem Jahr 2016 sollte die technische und die betriebliche Harmonisierung voranbringen (etwa bei Zuglängen und der Größe der Container, die transportiert werden können) und mehr Interoperabilität bringen.

Datenharmonisierung

Die Kommission stellt in Aussicht, die Erhebung der nationalen Daten für den Bereich Intermodal gemeinsam mit Eurostat bis Ende 2026 zu verbessern. Außerdem sei gerade der neue Rechtsrahmen in Ausarbeitung, ein Vorschlag soll bis Ende Juni vorgelegt werden. Den Vorschlag, die Betreiber sollen für Finanzhilfeanträge im Zuge der obligatorischen Kosten-Nutzen-Analysen auch quantifizierte Schätzungen der potenziell erzeugten Verkehrsverlagerung durch die Projekte angeben und darlegen, wie hoch die Benutzungsentgelte sein müssten, um eine Verkehrsverlagerung zu fördern, lehnt die Kommission ab.

Für eine Ökologisierung des Verkehrssektors müssten alle Verkehrsträger besser werden – einschließlich des Einsatzes alternativer Kraftstoffe im Straßenverkehr. Die Erhebung des Verkehrsverlagerungspotenzials würde nur die Projektträger zusätzlich belasten, aber bei Projektauswahl und Vergabe der Mittel keinen Mehrwert bringen, sagt die Kommission. (Luise Ungerboeck, 6.4.2023)