Akute Stressfaktoren wie etwa finanzielle Sorgen senken das allgemeine psychische Wohlbefinden.

Foto: Getty Images/Fertnig

Punktuell könnte man den Eindruck bekommen, dass sich hierzulande im Umgang mit psychischen Erkrankungen was tut: hier ein Pilotprojekt, da eine Petition zur Psychotherapie auf Kasse. "Es gibt viele unterschiedliche Angebote, aber es fehlt eine Gesamtstrategie mit einem definierten Ziel und einer längerfristigen Vision", findet Ingrid Zechmeister-Koss, stellvertretende Leiterin des Austrian Institute for Health Technology Assessment (AIHTA), eines akademischen Non-Profit-Instituts, das dabei helfen soll, dass in der Gesundheitspolitik Entscheidungen auf Basis von wissenschaftlicher Evidenz getroffen werden.

Die Covid-19-Pandemie hat auch in Österreich zu einem deutlichen Anstieg bei psychischen Erkrankungen geführt. Gleichzeitig gibt es massive Versorgungslücken und Kapazitätsengpässe im Gesundheitssystem. Laut österreichischen Bedarfsrechnungen sollte es hierzulande 112 Kassenpsychiaterinnen und Kassenpsychiater für Kinder und Jugendliche geben, tatsächlich gibt es weniger als 40. Von den notwendigen vollstationären Behandlungsplätzen in der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung fehlen mehr als 100.

"Österreich hat in Sachen Finanzierung eine Feuerwehrmentalität", sagte Zechmeister-Koss im Rahmen eines Mediengesprächs am Dienstag. Selten werde langfristig gedacht, die Maßnahmen für mentale Gesundheit zerbröckelten auf unterschiedliche Zuständigkeiten, kleine Vereine und regionale Initiativen. Es fehle das große Ganze und ein Umgang, der nicht "von der Krise getrieben" ist, kritisiert die Expertin. Das wäre auch aus volkswirtschaftlicher Perspektive sinnvoll. Denn wenn psychische Erkrankungen in der Kindheit nicht wirksam verhindert oder behandelt werden, geht das mit enormen Folgekosten einher.

Ungleiche Verteilung

Wer von Krisen wie der Pandemie oder der Teuerung wie hart betroffen ist, ist in Österreich ungleich verteilt. Wirtschaftlich vulnerable Gruppen, etwa Personen mit geringem Einkommen, arbeitslose Menschen oder Alleinerzieherinnen, spüren die Auswirkungen von Krisen besonders stark. Auch psychisch, denn die wirtschaftliche Situation der Menschen hat großen Einfluss auf ihr mentales Wohlbefinden, zeigen Studien wie aktuell die "So geht's uns heute"-Befragung der Statistik Austria.

Wirtschaftlich vulnerable Gruppen spüren die Auswirkungen von Krisen besonders stark.
Foto: Der Standard

Ein Viertel der Befragten gab an, negative Auswirkungen der Pandemie auf die eigene psychische Gesundheit wahrzunehmen, bei wirtschaftlich schlechter Gestellten war die Zahl deutlich höher. Während bei der Befragung im Herbst 2022 etwa jede zweite Person der Allgemeinbevölkerung eine "hohe Lebenszufriedenheit" angab, waren es bei Personen mit geringem Haushaltseinkommen 40 Prozent. Bei Personen aus von Arbeitslosigkeit betroffenen Haushalten lag der Anteil derjenigen mit hoher Lebenszufriedenheit bei nur 30 Prozent.

Denn akute Stressfaktoren senken das allgemeine psychische Wohlbefinden und können Depressionen auslösen beziehungsweise verstärken. Oder anders ausgedrückt: Wenn man sich ständig fragen muss, ob man sich die Miete und Stromrechnung noch leisten kann, hat das negative Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden. Und wer sich nicht gut fühlt, ist in der Folge weniger leistungsfähig. Das wiederum verstärkt die wirtschaftliche Vulnerabilität. "Ein Teufelskreis", betont Monika Mühlböck vom Institut für Höhere Studien (IHS). "Wirtschaftlich vulnerable Gruppen sind doppelt von den Krisen der vergangenen Jahre betroffen, finanziell und psychisch."

Ansätze aus anderen Ländern

Um solche Ungleichheiten auszugleichen, bräuchte es langfristige Maßnahmen. Und die gebe es, das machen zahlreiche andere Länder vor, sagt Zechmeister-Koss, die an einer Studie dazu beteiligt war. Dabei wurden aus einer Analyse von internationalen Modellen zur Prävention und Versorgung psychischer Erkrankungen bei jungen Menschen konkrete Ansätze und Vorschläge zur Verbesserung der kinder- und jugendpsychiatrischen Strukturen in Österreich entwickelt. Untersucht wurden sieben Länder, neben Australien sechs Länder aus verschiedenen europäischen Regionen mit unterschiedlichen Gesundheitssystemen, um eine möglichst breite Vielfalt internationaler Ansätze zu analysieren, die für Österreich von Relevanz sein könnten.

Das Ergebnis: Zuallererst müsste eine langfristige Vision mit einem konkreten Ziel definiert werden, so wie das in fünf von den sieben untersuchten Ländern der Fall ist. "Viele Länder haben zudem Indikatoren definiert, an denen bemessen wird, wie nahe man diesem Ziel schon ist oder ob man den Kurs ändern und andere Maßnahmen setzen muss", berichtet Zechmeister-Koss. Welche Indikatoren das sein könnten, zeigt ebenso ein Blick über die Landesgrenzen: In anderen Ländern wird der Erfolg von Maßnahmen etwa an Wartezeiten oder der Anzahl von Kindern psychisch erkrankter Eltern, die aktive Unterstützung bekommen, bemessen.

In einem weiteren Schritt sollte, wie etwa in sechs der sieben untersuchten Länder, besonderes Augenmerk auf frühzeitige Unterstützung der vielen Kinder, die psychisch erkrankte Eltern haben, gelegt werden. In Österreich ist das jedes vierte Kind. Denn ohne Prävention und adäquate Behandlung setzen sich psychische Erkrankungen über Generationen fort: Bei vielen Erwachsenen, die an psychischen Erkrankungen leiden, waren die Symptome bereits in der Kindheit vorhanden, wurden aber oft nicht adäquat erkannt oder behandelt. Haben psychisch erkrankte Erwachsene wiederum Kinder, besteht bei diesen erneut ein deutlich erhöhtes Risiko, psychisch zu erkranken.

Zudem müsste das politische Augenmerk besonders auf den Bildungsbereich gerichtet werden. Diesem Sektor, beginnend bereits im Kindergarten, kommt bei der Förderung psychischer Gesundheit in allen untersuchten Ländern besondere Bedeutung zu. Mehrere Länder empfehlen zusätzliches Personal (zum Beispiel eigenes Fachpersonal für psychisches Wohlbefinden) und die Weiterbildung von Pädagoginnen und Pädagogen zu Themen der psychischen Gesundheit.

Für all das sind mehr finanzielle Mittel nötig, damit psychische und somatische Erkrankungen gleichgestellt sind. Wie viel Geld für die Heilung und Prävention psychischer Krankheiten ausgegeben wird, sollte sich danach richten, wie viele davon betroffen sind – nicht an historischen Prioritäten. Das könnte über ein zweckgebundenes Budget, das aus allen betroffenen Ressorts – etwa Gesundheit, Soziales, Bildung und Justiz – gespeist wird, erreicht werden, so der Vorschlag. (Magdalena Pötsch, 5.4.2023)