Fodor: "Nach der Niederlage in Bern hat sich die öffentliche Wahrnehmung des Teams gedreht, aus Helden sind Schurken geworden."

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Inhalte des ballesterer #178 (April 2023) – Seit 31. März im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk

SCHWERPUNKT: UNGARN

ORBAN-BALL

Der ungarische Regierungschef will mit dem Fußball seine Macht sichern

PRESTIGEBAU

Das Budapester Nationalstadion

DER MITTELEUROPAPOKAL

Titel, Daten und Rekorde des Mitropa-Cup

Außerdem im neuen ballesterer

VIOLETTER SIR

Karl Daxbacher im Interview

SEGEN UNTERM GIEBELKREUZ

Die Eröffnung des Linzer Stadions

KATASTROPHENSCHUTZ

Der Fußball und das Erdbeben

DIE REFORM VON RIWNE

Fanaktionäre in der Ukraine

GARY DER GELASSENE

Ein Pressecorner zur Causa Lineker

DER ZOCKERFREUND DER STARS

Ibai Llanos spielt im Fußball mit

"ISRAEL HAT MICH GEREIZT"

Lukas Spendlhofer bei Maccabi Bnei Reina

POST VON DER FIFA

Rechtsstreit beim FC Mauerwerk

DER WERT DER AUSBILDUNG

Die juristisch fragwürdige Entschädigung

VON LÖWEN UND ROSEN

Fußballwappen in Wort und Bild

SPIELE MIT DEM FEUER

Ein Anstoß zu Eintracht Frankfurt gegen Napoli

GROUNDHOPPING

Matchberichte aus Belgien, Dänemark, Deutschland und Zypern

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"Klar, manche sind nach Ferenc Puskas, Jozsef Bozsik und Nandor Hidegkuti benannt", sagt Peter Fodor gleich zu Beginn, als es um die sichtbarsten Spuren der neuen ungarischen Erinnerungskultur geht – die Namen von Stadien. "Aber nicht alle heißen nach früheren Spielern. Das neue Stadion von Ferencvaros, dem populärsten Klub des Landes, trägt den Namen eines französischen Versicherungskonzerns." Fodor forscht zu Erinnerungspolitik, immer wieder dreht sich das Gespräch mit dem ballesterer zum Schwerpunkt Ungarn um die Goldene Elf, Viktor Orbans Ambitionen und den Platz Ungarns im modernen Fußball.

ballesterer: Der Fußball nimmt in der Erinnerungskultur der Regierung von Viktor Orban einen großen Stellenwert ein. Was hat sich in diesem Bereich seit seinem zweiten Amtsantritt 2010 verändert?

Peter Fodor: Das Erinnern ist nie eine Angelegenheit der Vergangenheit, sondern immer ein Bedürfnis der Gegenwart. Erinnern und Vergessen stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis, es gibt das eine ohne das andere nicht. So ist das auch in Ungarn. Der Sport ist seit 2010 ein strategisch wichtiger Bereich, die Infrastruktur ist seither massiv modernisiert worden. Im Vergleich mit anderen Bereichen hat der Sport sehr viel finanzielle Unterstützung von der Regierung bekommen. Trotzdem kann der Sport nicht der wichtigste Ort für Erinnerungskultur werden, dafür ist er zu real und zu messbar. Im Sport kennen wir aktuelle und frühere Resultate immer. Die Erinnerung an politische Ereignisse kann viel einfacher umgedeutet werden.

ballesterer: Warum hat der Fußball eine derartige Bedeutung für Orban?

Peter Fodor: Sport, speziell Fußball, ist Viktor Orban sehr wichtig. Er hat öfters gesagt, dass der Sport für ihn eines der wichtigsten Elemente seiner Sozialisation war. Er kennt und respektiert die Welt des Sports, die für ihn auch eine Quelle der Inspiration und Erholung ist. Wenn der ungarische Ministerpräsident bei Begräbnissen von Fußballern spricht, ist das ein symbolischer Akt, der die Bedeutung des Sports in der Geschichte und Gegenwart zeigen soll. Bei Orban hat es aber auch eine persönliche Dimension: Er verabschiedet sich von jemandem, den er wirklich respektiert hat.

ballesterer: Seine Regierung setzt aber nicht nur im Sport auf Erinnern, auch die Gedenktafeln für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs sind mehr geworden.

Peter Fodor: Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg an Bedeutung gewonnen hat. Der Krieg hat mit einer Niederlage für Ungarn geendet, die Verträge von Trianon gelten als nationales Trauma. Die Ungarn erinnern sich lieber an Siege als an Niederlagen. Das wissen auch diejenigen, die für Erinnerungspolitik bezahlt werden. Wenn mit staatlicher Unterstützung Historienfilme gedreht werden, handeln die davon, wie die Ungarn westliche Armeen besiegen. Der eine ist im Jahr 907 angesiedelt, der andere im Jahr 1757.

ballesterer: Wie unterscheidet sich die aktuelle Erinnerungskultur von jener im kommunistischen Ungarn?

Peter Fodor: Peter Esterhazy hat geschrieben, dass die erfolgreichste Ära des ungarischen Sports in eine der dunkelsten des Landes gefallen ist. Bei den Olympischen Spielen in Helsinki 1952 hat Ungarn 16-mal Gold, 10-mal Silber und 16-mal Bronze geholt. Im Fußball hat die Goldene Elf zwischen 1950 und 1954 nur ein Spiel verloren, leider ausgerechnet ein WM-Finale. Die Kommunisten haben ihre Politik als Neustart verkauft, sie waren aber von Sportlern und Trainern aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg abhängig. Der ungarische Sport war ja in den 1930er Jahren schon überaus erfolgreich. Bei den Olympischen Spielen in Berlin 1936 waren nur Deutschland und die USA erfolgreicher, bei der WM 1938 war Ungarn im Finale.

ballesterer: Puskas ist nach der Niederschlagung des Aufstands von 1956 geflüchtet.

Peter Fodor: Er, Zoltan Czibor, Sandor Kocsis und viele Teilnehmer der Olympischen Spiele in Melbourne haben Ungarn nach 1956 verlassen. Sie wollten nicht in einem Land leben, das von der Roten Armee besetzt war. In einem Land, in dem Sportler eine ideologische Funktion hatten. In einem Land, in dem man trotz der sportlichen Höchstleistungen kein gutes Leben führen konnte. Die Regierung hat versucht, die Erinnerung an diese Sportler so schnell wie möglich zu verdrängen. Das hat sich erst in den 1970er Jahren geändert. Puskas hat Ungarn 1981 besucht, im Nepstadion haben ihn 68.000 Zuschauer mit Standing Ovations begrüßt.

ballesterer: In einem Buchbeitrag haben Sie geschrieben, dass die Zusammensetzung der Goldenen Elf stark mit der kommunistischen Diktatur zu tun hat. Wie meinen Sie das?

Peter Fodor: Die Kommunisten haben viel für die sportlichen Erfolge in den frühen 1950er Jahren investiert. Sie haben Infrastruktur wie das Nepstadion errichtet, davor hat das Nationalteam kein eigenes Stadion gehabt. Und obwohl der Professionalismus offiziell verboten war, haben die Elitesportler nebenbei nicht arbeiten müssen, sie haben nur Scheinbeschäftigungen gehabt. Frei waren sie aber trotzdem nicht, sie haben nicht einmal bei einem ausländischen Klub spielen dürfen. Als der frühere Teamspieler Sandor Szücs 1951 nach Österreich flüchten wollte, ist er vom Regime wegen Hochverrats exekutiert worden. Seine Hinrichtung war ein Signal an alle Sportler. Ungarn hat damals zwar eine der besten Ligen der Welt gehabt, aber wir werden nie wissen, was die Goldene Elf erreicht hätte, wenn ihre Spieler in noch besseren Ligen gespielt hätten. Czibor und Kocsis haben später gemeinsam fast 80 Tore für Barcelona geschossen, Puskas hat mit Real Madrid dreimal den Landesmeistercup gewonnen.

ballesterer: Nach dem WM-Finale 1954 ist die Goldene Elf tabuisiert worden. War das auch, um die Niederlage nicht mit dem Regime in Verbindung zu bringen? Noch dazu gegen Westdeutschland.

Peter Fodor: Nach der Niederlage in Bern hat sich die öffentliche Wahrnehmung des Teams gedreht, aus Helden sind Schurken geworden. In Budapest hat es nach dem Finale eine Demonstration gegeben, dort haben die Leute nicht nur das Team, sondern auch die Regierung kritisiert. Die Kommunistische Partei hat den Fußball daher aus der öffentlichen Diskussion genommen. Ab 1957 war aber die niedergeschlagene Revolution von 1956 das viel größere Tabu. Da das Ende der Goldenen Elf mit dem Aufstand zusammengefallen ist, ist darüber auch nicht mehr gesprochen worden. In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren hat sich Ungarn gegenüber dem Westen geöffnet, speziell weil es Kredite gebraucht hat. Die Inszenierung des Puskas-Besuchs sollte zeigen, dass Ungarn keine harte Diktatur mehr ist, sondern ein offenes und bis zu einem gewissen Grad vergebendes Land.

ballesterer: Die Klubs sind damals von kommunistischen Parteikadern geleitet worden, heute gehören sie oft Freunden und Parteigängern von Orban. Ist das vergleichbar?

Peter Fodor: Sicher hätte es diese öffentlichen Investitionen in den Sport nicht gegeben, wenn Orban das nicht gewünscht hätte. Ich glaube aber nicht, dass sich die beiden Zeiten gut vergleichen lassen. Regierungschef Matyas Rakosi und seine Verbündeten waren in der Bevölkerung verhasst, sie haben die sportlichen Erfolge benötigt, um die Gräben zwischen der politischen Elite und der Bevölkerung zu schließen. Ich glaube nicht, dass die derzeitige Regierung in vergleichbarer Weise vom Sport profitieren will. Das heißt nicht, dass der Sport für sie nicht wichtig wäre. Die politischen Führer verwenden die symbolische Sprache des Sports, sie sprechen immer von einem Gegner, den sie besiegen müssen: George Soros, Brüssel, die Liberalen. Sport ist ein Modell für Orbans Politik – der ständige Kampf, der dann zum Sieg führt.

ballesterer: Das Nationalteam hat rund um Florian Albert in den 1960er Jahren beziehungsweise rund um Lajos Detari in den 1980er Jahren noch einige Erfolge gefeiert. Warum ist die Erinnerung an die beiden weniger präsent?

Peter Fodor: Alberts Klasse wird von niemandem angezweifelt. Er ist der einzige Ungar, der den Ballon d’Or bekommen hat, er hat mit dem Nationalteam bei den Olympischen Spielen 1960 Bronze geholt und war bei der EM 1964 Dritter. Wenn man über ihn spricht, wird aber meist gesagt, dass er gut in die Goldene Elf gepasst hätte, wenn er ein paar Jahre früher geboren worden wäre. Detari war vielleicht der letzte Weltklassespieler aus Ungarn, aber seine Karriere ist mit einem Niedergang des ungarischen Fußballs zusammengefallen. Er hat mit dem Nationalteam nur an einem Großturnier teilgenommen, der WM 1986 in Mexiko. Die war ein Fiasko.

ballesterer: Trauen Sie sich eine Prognose zu: Wie wird an die heutige Generation erinnert werden?

Peter Fodor: Das Nationalteam hat bei den letzten Europameisterschaften gut mitgespielt. 2016 hat es Österreich geschlagen und sich für das Achtelfinale qualifiziert, 2021 hat es gegen Deutschland und Frankreich remisiert. Zuletzt hat es in der Nations League zweimal England und einmal Deutschland geschlagen. Ungarn war dabei immer der klare Außenseiter. Wir haben aber derzeit keine Weltklassespieler, es ist das Team eines kleinen Landes, das Großes erreichen will. Es ist damit ein passendes Symbol dafür, was sich viele Ungarn wünschen. (Clemens Gröbner, 4.4.2023)