Twitter schränkt die Reichweite von einer Vielzahl an Beiträgen ein.

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Der vergangene Freitag war nicht wie jeder andere – zumindest für Twitter. Mit großem Trommelwirbel und mehreren Blogposts läutete der Kurznachrichtendienst "eine neue Ära der Transparenz" ein. Grund dafür war die Veröffentlichung des eigenen Empfehlungsalgorithmus, mit dem einerseits entschieden wird, welche Beiträge ein möglichst großes Publikum verdient haben. Andererseits wird anhand dieses Algorithmus festgelegt, welche Inhalte wenig Reichweite erhalten werden.

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Das ist gerade deshalb interessant, weil Elon Musk vor seiner Übernahme des Mikrobloggindienstes wiederholt verkündete, ein "Absolutist der Redefreiheit" zu sein, der Twitter zu einem "Marktplatz der freien Meinungsäußerung" machen wolle. Rasch veröffentlichten aufmerksame Beobachterinnen und Beobachter deshalb akribische Analysen des Twitter-Codes. Mit diesen wurde offengelegt, dass nicht nur die Reichweite von Desinformation massiv reduziert wird, sondern auch ganz allgemein Beiträge eingeschränkt werden, die den Ukrainekrieg thematisieren.

Gemeinsam mit Fake News

Die neuesten Erkenntnisse gehen unter anderem auf einen ausführlichen Twitter-Thread von Aakash Gupta zurück, der als Produktmanager bereits bei großen Techkonzernen wie Google und dem Videospiel-Publisher Epic Games gearbeitet hat.

Der wahrscheinlich wichtigste Teil seiner Analyse des Twitter-Algorithmus ist die Entdeckung, dass der Themenbereich "UkraineCrisisTopic" gemeinsam mit verschiedenen Formen von Desinformation mit dem Label "DoNotAmplify" versehen wurde. Übersetzt bedeutet das so viel wie: Die Reichweite entsprechender Beiträge soll in keiner Weise vergrößert, also amplifiziert werden.

Dass Twitter Beiträge zum Ukrainekrieg im selben Zug mit medizinischer Desinformation, Hassrede und Gewaltaufrufen listet, wirft Fragen auf. Vor allem deshalb, weil es keine offizielle Erklärung für die Maßnahme gibt. Eine Möglichkeit wäre laut "Gizmodo" dass es sich um einen Versuch handeln könnte, die Reichweite prorussischer Fake News einzuschränken. Erst kürzlich hat der Kurznachrichtendienst mehr als 200.000 Beiträge von Accounts gelöscht, die mit dem Kreml in Verbindung stehen.

In Wirklichkeit können allerdings nur Vermutungen angestellt werden, auch deshalb, weil aus dem veröffentlichten Programmcode nicht hervorgeht, wann "UkraineCrisisTopic" in die Liste der einzuschränkenden Themenbereiche aufgenommen wurde.

Vorwurf der Kreml-Propaganda

Elon Musk ist seit Russlands brutalem Angriff auf die Ukraine immer wieder mit fragwürdigen Kommentaren zum Konflikt aufgefallen. Auf Twitter veröffentlichte er Anfang Oktober letzten Jahres einen "Friedensplan" und ließ seine Gefolgschaft darüber abstimmen, ob dieser eine gute Idee sei. Der Plan sah mitunter vor, dass die Halbinsel Krim als Teil von Russland anerkannt werden und die Ukraine "neutral" bleiben solle. Die Aussagen zogen rasch den Unmut der ukrainischen Bevölkerung auf sich. Der russische Regimekritiker Garri Kasparow warf dem Tesla-Milliardär auf Twitter Kreml-Propaganda vor, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj meldete sich persönlich mit Kritik zu Wort. Musk selbst hingegen warnte wiederholt, dass der Konflikt auf den Ausbruch eines dritten Weltkriegs hinauslaufen könnte.

Vergangenen Februar sorgte Musks Weltraumunternehmen Space X dann mit der Ankündigung für Aufsehen, den eigenen Satelliteninternet-Dienst Starlink in der Ukraine einschränken zu wollen. Der Service sei "nie dazu gedacht gewesen, als Waffe eingesetzt zu werden", sagte CEO Gwynne Shotwell während einer Konferenz in Washington, D.C. "Die Ukrainer haben ihn jedoch auf eine Art und Weise genutzt, die unbeabsichtigt und nicht Teil einer Vereinbarung war." Haupteinsatzort des Satelliteninternets ist tatsächlich die Front, wo es unter anderem für die Steuerung von Drohnen genutzt wird.

Boost und De-Boost

Aber zurück zum Twitter-Algorithmus. Denn Guptas Analyse zeigt noch deutlich mehr auf als den Umgang mit Desinformation und dem Ukraine-Thema. Ganz allgemein wird genau ersichtlich, welche Formen der Interaktion dazu führen, dass Beiträge geboostet werden: Wird ein Posting mit "Gefällt mir" markiert, erhält es einen 30-fachen Boost, ein Retweet gibt einen 20-fachen Boost. Am unwichtigsten sind hingegen Antworten, also Kommentare. Diese bringen nur einen sehr geringen Boost mit sich.

Der Algorithmus gibt Usern aber auch Einblick darin, was sie nicht tun sollten. Bestraft werden beispielsweise Postings, die einen Link zu fremden Webseiten enthalten. Gupta hebt hervor, dass externe Links "in der Regel als Spam markiert" werden – zumindest dann, wenn der dahinterstehende Account nicht über ausreichend Engagement verfügt. Dabei bleibt allerdings unklar, ab welchem Punkt ein Konto über ausreichend Relevanz verfügt.

Twitter-Chef Elon Musk stand in den letzten Monaten immer wieder wegen seiner Aussagen zum Ukrainekrieg in der Kritik.
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Außerdem, so zeigt die Analyse, sollte man beim Verfassen von Tweets stets darauf achten, keine Rechtschreibfehler zu machen. Erkennt das System ein Wort als "unbekannte Sprache", erhalten sie einen Boost von 0,01 – und somit eine massive Einschränkung der Reichweite.

Wer zahlt, kriegt Reichweite

Wenig überraschend ist zuletzt, dass der Kauf eines Twitter-Blue-Abonnements nicht nur ein blaues Häkchen mit sich bringt. Der Algorithmus bestätigt Musks Behauptung, dass zahlende User besser sichtbar sein werden. Nun ist ersichtlich, dass die Reichweite mindestens um das Vierfache und maximal um das Hundertfache gesteigert wird.

Die offizielle Veröffentlichung des Twitter-Algorithmus folgte einem Leak Ende März. Damals tauchten Teile des Quellcodes auf der Entwicklerplattform Github auf, veröffentlicht von einem User mit dem Pseudonym "FreeSpeechEnthusiast". Musk reagierte kurz darauf mit der Ankündigung, den Code im Sinne der gesteigerten Transparenz ganz offiziell zur Verfügung zu stellen. Es wurden allerdings nur Teile des Quellcodes veröffentlicht, primär eben die Empfehlungsmechanismen.

"Globale Community"

Es dürfte Twitter allerdings nicht nur um Transparenz gehen, wie ein Blogpost des Kurznachrichtendienstes zeigt. In diesem lädt das Unternehmen außenstehende Entwickler ein, Verbesserungsvorschläge für den Algorithmus einzureichen. Man hoffe, dadurch von der "kollektiven Intelligenz und dem Fachwissen der globalen Community zu profitieren". Dieses könnte auch deshalb notwendig sein, weil Elon Musk mit seiner Übernahme die Hälfte der Belegschaft – und somit unzählige Entwickler – rausgeschmissen hat. (Mickey Manakas 4.4.2023)