Blickt auf seine Zeit als "Profil"-Chefredakteur zurück: Christian Rainer.

Foto: APA/ROBERT JAEGER

Wien – Mit 1. März hat Christian Rainer nach einem Vierteljahrhundert seine Funktion als "Profil"-Chefredakteur abgegeben. Auch seinen Job als Herausgeber des Nachrichtenmagazins bekleidet er nicht länger. Im APA-Interview blickt er auf die vielen verantworteten Titelseiten und Leitartikel zurück, erklärt, warum er für die "Schande Europas" den Jobverlust in Kauf genommen hätte, und spart nicht mit Kritik an der Medienpolitik.

In 25 Jahren beim "Profil" verantworteten Sie rund 1.300 Titelseiten und in etwa 1.000 Leitartikel. Welche blieben Ihnen besonders in Erinnerung?

Rainer: Bei den Titelseiten sicher die "Schande Europas" (Anm.: Anlässlich der blau-schwarzen Regierungsbildung 2000). Für diese Titelseite hätte ich in Kauf genommen, dass ich den Job verliere. Es war so wichtig, diesem Tabubruch, der Koalition zwischen Jörg Haider und Wolfgang Schüssel, etwas entgegenzusetzen. Auch Helmut Zilk als tschechoslowakischer Spion ca. zehn Jahre später ist mir gut in Erinnerung. Es ist mir bis heute unverständlich, warum Zilk in Österreich und Wien weiter eine Apotheose genießt, obwohl selbst Václav Havel in einer Rede bestätigt hat, was das "profil" damals geschrieben hatte.

Haben Sie sich hin und wieder ein paar Wochen nach dem Verfassen eines Leitartikels gedacht, mit dem einen oder anderen habe ich mich zu weit hinausgelehnt, das würde ich jetzt so nicht mehr schreiben?

Rainer: Ich habe viele Selbstzweifel, aber diesen nicht, zumal ich oft genug abfedernd geschrieben habe: "Ich irre mich häufig, aber ich versuche es ein weiteres Mal." Wenn es Fehler sind, ist es ärgerlich, wenn es Fake News sind, ist es unmöglich und unerträglich.

Bezüglich der damaligen Titelseite zur "Schande Europas": Jetzt ist die FPÖ trotz zahlreicher Skandale wieder auf dem Vormarsch. Ihre Gedanken dazu?

Rainer: Dass ich immer Recht hatte. Aber das wäre ein schlimmer Titel für das Interview. (lacht) Jörg Haider war eine Ausnahmefigur des Rechts- und rechtsextremen Populismus in Europa. Vielleicht konnte man das noch glauben, als Haider weg war und Heinz-Christian Strache kam. Niemals wird diese Simpel-Variante von Haider dorthin kommen, wo er war, hieß es – und die FPÖ war wieder dort. Mit Herbert Kickl kommt die FPÖ niemals über 20 Prozent, hieß es. Jetzt liegt sie klar an erster Stelle. Der Extremismus in Österreich hat sich völlig entkoppelt von den Personen, die ihn darstellen. Das bedrückt mich gerade in diesen Tagen. Jetzt wäre es die "Schande Niederösterreichs". Natürlich handelt es sich jetzt nicht mehr um Alt-Nazis um Jörg Haider, sondern um Menschen, die sich im Neonaziumfeld bewegt haben. Ob es das besser macht?

Hängt die Stärke der FPÖ auch mit der Schwäche der SPÖ zusammen?

Rainer: Ich glaube, das ist zu einfach gesagt. Es hängt eher mit einer eigenartigen Situationselastizität der österreichischen Bevölkerung zusammen, die keine Hemmungen sieht, die Freiheitlichen zu wählen, egal was sie tun und sagen. Die Frage begleitet mich aber schon mein gesamtes Journalistenleben. Es hängt vielleicht historisch damit zusammen, dass Österreich bis 1918 eine absolutistische Monarchie war und es hier nie ein Großbürgertum gab, dass gesagt hat: "Bis hierhin und nicht weiter." Die wenigen, die es gab, wurden vernichtet oder vertrieben. Das Fehlen aller roten Linien hängt vermutlich auch mit der Opferrolle Österreichs nach 1945 zusammen, als Selbsterkenntnis und Selbstreflexion sich nicht in die DNA einbrannten und erst mit Waldheim und Vranitzky ein bisschen der Gedanke aufkam, was geht und was nicht. Das war zu spät. Aber eine erschöpfend gute Erklärung ist das nicht.

Das Verhältnis zwischen Politik und Medien ist durchaus angespannt. Sie sagten, Sebastian Kurz habe am Ende Journalistinnen und Journalisten nur noch als Gegner gesehen. Wie schafft man die Balance zu halten, nicht verfeindet, aber auch nicht verhabert zu sein oder gar die WKStA auf den Plan zu rufen?

Rainer: Eine gute Kinderstube bei Journalistinnen und Journalisten reicht wahrscheinlich, um zu wissen, was richtig ist und was nicht. Dass man in einem langen Berufsleben das eine oder andere Foto vermeiden könnte – das sage ich jetzt selbstkritisch -, mag schon wahr sein. Wer keine Nähe hat, wird die Feinmechanik der Politik aber nicht verstehen. Wenn freilich diese Nähe die Berichterstattung beeinflusst oder auch nur eine Schere im Kopf schmiedet, sollte man den Beruf an den Nagel hängen und etwas anderes tun.

Namhafte Chefredakteure mussten zurücktreten, bei manchem Medienhaus gab es Hausdurchsuchungen. Findet gerade ein Selbstreinigungsprozess in der Medienbranche statt?

Rainer: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass Journalisten heute ohnehin wesentlich genauer auf Distanz achten, sei es aus moralischer Verantwortung, sei es aus Angst vor dem Schafott, auch wenn es gerade nicht danach aussieht. Es ist ein Zufall der Geschichte, dass das Handy von Thomas Schmid oben auf schwimmt auf den hohen Wellen. Der Qualitätsjournalismus ist sauberer als je zuvor. Wie man aber sieht, gilt das nicht unbedingt für den Boulevard und schon gar nicht für Produkte aus dem Hause Fellner.

Auch wenn man noch so sauber im Qualitätsjournalismus arbeitet, stellt sich die Frage, warum sich das nicht auch in Vertrauen der Bevölkerung ummünzen lässt?

Rainer: Die Bevölkerung in Österreich hat immer weniger Respekt und mehr Zweifel daran, was wir eigentlich in einem imaginierten stillen Kämmerchen tun. Die Möglichkeiten, das zum Ausdruck zu bringen, haben sich geändert. Früher war es der Leserbrief, heute ist es Social Media. Ich sehe das nicht als positive Entwicklung. Die Demokratisierung der Meinungsäußerung hat sehr viele Schattenseiten. Was ich an Beleidigungen, Morddrohungen und Ähnlichem selbst erlebt habe, bekam eine ganz neue Qualität.

Haben die Drohungen Sie persönlich belastet?

Rainer: Nein. Aber mich belastet, dass das eine miserable Entwicklung für die Gesellschaft in Österreich, europaweit und global ist. Wiewohl ich als Journalist vor wenigen Wochen in einem Wirtshaus in Ebensee verprügelt und mit dem Satz "Du linker Schreiberling" rausgeschmissen wurde. Soll sein, ich halte es aus. Aber es ist eine Grenzüberschreitung, die nicht passieren sollte.

In der Vorwoche wurden von der Regierung mehrere medienpolitische Initiativanträge im Parlament eingebracht – darunter eine neue Qualitätsjournalismusförderung in Höhe von 20 Millionen Euro. Wie beurteilen Sie das?

Rainer: Das ist ein Tropfen auf einen inzwischen glühenden Stein. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Politik begriffen hat oder begreifen will, in welchem Zustand sich die Medien in Privateigentum in Österreich befinden. 20 Millionen Euro sind lächerlich. Auch was im Rahmen der Digitalisierungsförderung ausgeschüttet wird, kann in keiner Weise die Marktverzerrung durch den ORF ausgleichen und die digitale Disruption, steigende Papierpreise und die Kosten der Distribution kompensieren. Die Medien in Österreich sind in einer existenziellen Krise. Es geht ums Überleben. Wer das nicht sieht, ist blind oder will es nicht sehen – bei der Politik möglicherweise beides.

Die neue Chefredakteurin des "profil", Anna Thalhammer, hat in einem Interview durchaus durchblicken lassen, dass sie mit der digitalen Aufstellung des "profil" nicht sonderlich zufrieden ist. Haben Sie die Digitalisierung verschlafen?

Rainer: Sie hat auch gesagt, dass es den vielen Eigentümerwechseln beim "profil" geschuldet ist. Es gab fünf Eigentümerwechsel in 25 Jahren und "profil"-Online hat darüber hinaus wiederum anderen Eigentümern gehört. Da wurde nicht investiert. Freilich wird auch von den Medien verlegerischer Herkunft mit einer früh aufgesetzten digitalen Monetarisierungsstrategie nur ein Bruchteil in erkennbarer Form überleben.

Gab es zwischendurch immer wieder Ideen für die Weiterentwicklung des Onlinebereichs, aus denen nichts geworden ist?

Rainer: Ich verfüge über ungefähr hundert Präsentationen, Rollouts und Notizen für den Aufsichtsrat, wie die digitale Transformation stattfinden könnte. Es war nicht leicht, durch die absurde Eigentümerkonstruktion durchzudringen. Aber dafür haben wir uns den Aufprall in einigen Sackgassen erspart, in die andere Medien gefahren sind. Nochmals: Medien, die sich in Österreich großartig digital refinanzieren, muss man mir erst zeigen. Und dennoch: Wer jetzt die digitale Transformation nicht schafft, hat keine Chance zu überleben. Der Schlüssel sind zahlende Abonnentinnen und Abonnenten im Digitalbereich. Hier hat das "profil" eine außerordentlich gute Chance, weil wir Aufgaben erfüllen, die bei Tageszeitungen durch den ORF und viele andere digitale Medien – zum Teil selbsternannte Medien – abgelöst wurden.

In Ihrem Abschieds-"profil"-Interview haben Sie gemeint, es fehlt in Österreich der "große außen- und gesellschaftspolitische Thinktank nach dem Vorbild der Bertelsmann Stiftung". Hat sich diesbezüglich schon etwas konkretisiert?

Rainer: Ich hätte inzwischen Geldgeber, die uneigennützig zumindest die Initialzündung finanzieren würden. Aber das ist nichts, was man von einem Tag auf den anderen aus dem Boden stampft. Diese Aufgabe würde mir aber sicherlich große Freude machen, mehr in die Tiefe als in die Breite gehen. Und wenn ich die politische Diskussion in Österreich mit jener in Deutschland vergleiche, dann sehe ich, wie gut es dem Land täte, wenn es einen Thinktank gäbe, der Außenpolitik, Sicherheitspolitik, Wissenschaft und einiges mehr ver- und bearbeitet. Wirtschaft alleine, und das oft noch parteipolitisch konnotiert, kann es nicht sein. (APA, 6.4.2023)