Man hetzt sich täglich im Job ab, um dann direkt zu den Kindern zu eilen, und die Zeit für sich selbst kommt sowieso zu kurz. Sieht so ein gutes Leben aus? Oder geht es nicht vielleicht auch ein bisschen besser?

Ja, ist die Soziologin Karin Jurczyk überzeugt. Sie sitzt im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik und hat gemeinsam mit ihrem Kollegen Ulrich Mückenberger ein Konzept mit dem Namen "Optionszeitenmodell" entwickelt. Es sieht vor, dass sich Menschen im Laufe ihres Berufslebens eine bezahlte Auszeit von bis zu neun Jahren nehmen können – um Dinge zu tun, die ihnen sonst wichtig sind, wie beispielsweise Kinderbetreuung oder ein Ehrenamt.

Jurczyk ist der Meinung, dass wir unsere Art zu arbeiten radikal überdenken müssen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Gesellschaft immer älter wird und wir wohl auch immer länger arbeiten werden. Und weil es derzeit Frauen sind, die den großen Teil der unbezahlten Arbeit übernehmen. Ihr Modell könnte das ändern und dazu führen, dass sich Männer mehr einbringen, ist die Soziologin überzeugt.

STANDARD: Sie haben das sogenannte Optionszeitenmodell entwickelt. Diesem nach sollen alle Menschen über ein Zeitbudget verfügen, das sie zum Beispiel verwenden können, um ihre Kinder zu betreuen, eine Weiterbildung zu machen oder auch einfach für Selbstfürsorge. In dieser Zeit sind sie nicht erwerbstätig oder nur in Teilzeit. Wie funktioniert das genau?

Jurczyk: Es geht uns um ein Zeitbudget für jede Person, versehen mit einem Rechtsanspruch. Aus diesem Budget können Sie im Laufe Ihres Lebens Zeit entnehmen. Und zwar nicht wie jetzt nur bei der Elternzeit, sondern wann immer Sie es brauchen. Sie können Ihre Erwerbsarbeit aber nicht nur unterbrechen, sondern auch reduzieren. Damit es nicht zu einem Modell für Gutverdiener wird, muss es monetär abgesichert sein.

Das Ganze ist zweckgebunden. Wir sagen: Diese Zeiten und das entsprechende Geld soll es nur für gesellschaftlich relevante Arbeit geben. Als diese relevante Arbeit sehen wir vor allem Sorgearbeit, sich kümmern um andere Menschen, vor allem Kinder, alte und kranke Menschen. Auch Weiterbildung wäre gesellschaftlich relevant und wichtig für den Arbeitsmarkt. Schließlich ist auch Zeit für Selbstfürsorge vorgesehen. Ohne dass Sie für sich selbst hinreichend sorgen können, können Sie weder für andere sorgen noch gut in Ihrem Beruf sein.

STANDARD: Bis zu neun Jahre Auszeit sollen möglich sein. Wie sind Sie denn auf diese Zahl gekommen?

Jurczyk: Wir haben anhand von Daten errechnet, wie viel Zeit Frauen und Männer durchschnittlich verwenden für Sorgearbeit, Erwerbsarbeit, für Weiterbildung oder Selbstsorge. Da sind wir bei Frauen und Männern auf unterschiedliche Zahlen gekommen. Denn wie wir alle wissen, wird Sorgearbeit vor allen Dingen von Frauen geleistet.

Wir haben dann Frauen und Männer in einen Topf geworfen und einen Durchschnitt gebildet. Damit wir geschlechtsunabhängig sagen können: Wie viel braucht jeder Mensch? Zusätzlich haben wir uns Studien angeschaut, um zu sehen: Was wissen wir über Bedarfe? Wo fehlt es, und wo ist es vielleicht auch genug? So sind wir auf die neun Jahre gekommen.

STANDARD: Wie viele Jahre bekommt man wofür?

Jurczyk: Für Kinderbetreuung, Pflege und Ehrenamt bekommt man sechs Jahre Zeitbudget. Die Sorge für andere ist für uns die wichtigste Tätigkeit, ohne die überhaupt nichts funktionieren kann. Zwei Jahre würde man außerdem für Weiterbildung bekommen und ein Jahr für Selbstfürsorge.

STANDARD: Dieses eine Jahr Selbstfürsorge würde man sich zum Beispiel nehmen, wenn man merkt, dass einem alles zu viel wird?

Jurczyk: Ja, oder wenn man merkt, dass es in der Situation, in der man sich befindet, oder in dem Job, in dem man ist, einfach hinten und vorne nicht mehr stimmt. Es geht um die Möglichkeit, innezuhalten, sich umzuorientieren und zu fragen: Wo will ich denn hin? Und vielleicht etwas anderes auszuprobieren – was über die tägliche Regeneration hinausgeht. Denn wir haben zwar einen Urlaubsanspruch und etwas tägliche Freizeit. Aber das reicht in der Regel nicht aus, um herauszufinden: Was brauche ich denn und was fehlt mir? Und auf welchen Gebieten möchte ich mich entfalten?

"Es geht um die Möglichkeit, innezuhalten, sich umzuorientieren und zu fragen: Wo will ich denn hin?"

STANDARD: Wie viel Geld gibt es in dieser Zeit, und wer bezahlt?

Jurczyk: Bei den Sorgetätigkeiten denken wir an eine Art Lohnersatz – etwa wie beim Elterngeld. Über den prozentualen Anteil gemessen am Gehalt muss man sich noch streiten. In Deutschland sind es beim Elterngeld derzeit 67 Prozent des Lohnes. Dieser Lohnersatz wird vom Staat bezahlt. Wir meinen, für gesellschaftlich relevante Sorgearbeit sind öffentliche Gelder, also Steuergelder, die richtige Quelle. Für Weiterbildung sollten allerdings die Arbeitgeber zahlen. Weil sich kleine Arbeitgeber das womöglich nicht leisten können, soll das über einen Pool erfolgen. Was die Selbstsorge angeht, würden wir sagen, dass das jene, die über Geld verfügen, weitgehend selber zahlen können. Jene, die über nicht genug Geld verfügen, sollen Unterstützung erhalten. Die Geldgeber sind also unterschiedliche – und die Summen sind es wahrscheinlich auch. Aber es braucht auf jeden Fall diese monetäre Leistung.

STANDARD: Was hat Sie auf die Idee für Ihr Modell gebracht? Steckt da eine persönliche Erfahrung dahinter?

Jurczyk: Da steckt auch eine persönliche Erfahrung dahinter. Aber viel entscheidender ist eigentlich, dass ich mich seit Mitte der 70er-Jahre mit diesen Themen wissenschaftlich beschäftigt habe. Seitdem hat sich die Problematik noch einmal verstärkt. Die Zeitknappheit, die Erschöpfung, die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, der demografische Wandel: Das ruft nach Lösungen. Dazu kommt, dass die Frauenbewegung ja seit langem auch den Arbeitsbegriff kritisiert und sagt: Wir brauchen eine Anerkennung von Sorgearbeit.

Was wäre, wenn wir dann, wenn wir es brauchen, mehr Zeit hätten? Für unsere Kinder, ein Ehrenamt oder einfach nur für uns selbst.
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STANDARD: In einem Interview meinen Sie, dass das Modell die Chance bieten könnte, dass Männer mehr Sorgearbeit übernehmen. Aber ist das wirklich realistisch? Schon jetzt haben Männer die Möglichkeit, in Karenz oder Elternteilzeit zu gehen, und sie machen es dennoch sehr oft nicht.

Jurczyk: Das ist richtig. Trotzdem gehen wir davon aus, dass durch unser Modell mehr Männer Sorgearbeit übernehmen würden, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen zeigen viele Studien, dass Männer sehr gerne mehr Zeit für ihre Familie und vor allen Dingen für ihre Kinder verwenden würden, wenn ihre Arbeitgeber sich nicht querstellen würden. Außerdem haben wir ein kulturelles Muster von Männlichkeit, das Männer zögern lässt, in Karenz oder Teilzeit zu gehen. Heutzutage ist es normal, dass man 40 Stunden arbeitet.

Wir wollen an dieser Norm und an dieser Normalität drehen. Wir gehen davon aus, dass es durch unser Modell selbstverständlicher werden würde, dass Männer – gerade der jüngeren Generation – Auszeiten in Anspruch nehmen würden. Es wäre nicht so negativ konnotiert oder durch Karriereeinbußen sanktioniert. Aus diesen Argumenten speist sich unser Optimismus.

STANDARD: Sie denken also, dass sich durch die rechtliche Verankerung auch die gesellschaftlichen Erwartungen ändern würden?

Jurczyk: Ja, wir denken, dass sich eine andere Norm etablieren würde. Die neue Norm wäre, die Lebensläufe "atmen" zu lassen, wie wir es nennen. Wir sind überzeugt, dass das auch für Männer attraktiv ist. Was jetzt Ausnahme ist, nämlich die Unterbrechung oder die Verkürzung, wollen wir zur Regel machen durch einen Rechtsanspruch.

STANDARD: Schon jetzt mangelt es an Fachkräften. Wird das Problem nicht noch gravierender, wenn alle bis zu neun Jahren aus dem Job aussteigen?

Jurczyk: Kurzfristig ja. Aber man muss sich auch ansehen, warum wir diesen Fachkräftemangel überhaupt haben. Einerseits wegen des demografischen Wandels. Es gehen uns die Nachfolgegenerationen aus. Andererseits jedoch sind ganz viele nicht bereit, unter den gegebenen Bedingungen zu arbeiten. Die Erschöpfung ist groß, und die Werte ändern sich. Ich denke da etwa an den Pflegebereich, wo ein gigantischer Fachkräftemangel herrscht. Der liegt teils daran, dass viele aussteigen, weil sie es nicht mehr aushalten.

"Ganz viele sind nicht bereit, unter den gegebenen Bedingungen zu arbeiten. Die Erschöpfung ist groß, und die Werte ändern sich."

Wenn man die Arbeitsbedingungen so gestalten würde, dass die Menschen nicht fix und fertig sind, hält man sie und gewinnt sogar langfristig Fachkräfte. Jetzt ist es das Richtige, auf diese lebensweltlichen Interessen einzugehen.

STANDARD: In eine ganz andere Richtung gehen derzeit die Diskussionen in Österreich. Der Arbeitsminister sagte kürzlich, dass Menschen, die freiwillig Teilzeit arbeiten, weniger Sozialleistungen bekommen sollten. Auch wenn er seine Forderung später relativierte: Die Frage, ob es Menschen nicht zustehen sollte, Teilzeit zu arbeiten – aus welchen Gründen auch immer –, führte zu einer großen Debatte. Wie sehen Sie diese Diskussion?

Jurczyk: Sie belegt, wie stark die Norm des Acht-Stunden-Tages verankert ist. Diese Vollzeitarbeit konnte sich aber als Modell nur durchsetzen, weil Frauen den Rest der Arbeit übernommen haben. Es braucht immer eine Person, die dem vollzeiterwerbstätigen Menschen jegliche Arbeit abnimmt. Wir hätten keine Kinder, keine Versorgung von Alten, wenn alle selbstverständlich Vollzeit plus erwerbstätig wären. Das wird bei diesen Debatten einfach immer vergessen.

STANDARD: Müsste man bei Ihrem Modell gegenüber irgendjemandem nachweisen, was man in dieser Zeit getan hat?

Jurczyk: Man müsste schon nachweisen, um was man sich kümmert. Oder die Weiterbildung, die man macht. Aber was die Selbstfürsorge angeht, geht es ja genau um den Freiraum für die Entfaltung, um eine Entwicklung, bei der ich eben nicht genau weiß, wo es hingeht. Da, finde ich, sollte es keinerlei Nachweispflicht geben.

STANDARD: Wie begegnen Ihnen denn die Menschen, wenn Sie Ihr Modell vorstellen?

Jurczyk: Die meisten atmen auf. Sie stellen sich vor, was das für sie konkret bedeuten könnte. Was wäre, wenn sie dann, wenn sie es brauchen, mehr Zeit hätten für das, was sie brauchen? Das ist die weit überwiegende Reaktion. Eine vorgestellte Erleichterung ist die weit überwiegende Reaktion.

Die meisten Arbeitgeber, mit denen wir bislang gesprochen haben, reagieren verschreckt. Sie sagen: Oh, wie soll das denn gehen? Und es stimmt ja auch. Wenn viele Beschäftigte ihre Ansprüche realisieren wollen, muss man Regelungen finden. Insofern verstehe ich schon auch die Sorgen. Aber auch dafür gibt es Modelle.

STANDARD: Sie haben in einem Interview eingeräumt: Ganz so, wie Sie es vorgeschlagen haben, wird das Modell wahrscheinlich nicht kommen. Warum?

Jurczyk: Weil die Politik nie etwas so umsetzt, wie es sich die Wissenschaft ausgedacht hat. Und auch wir selber würden nicht in Anspruch nehmen, alle Argumente parat zu haben. Wir haben jetzt Zahlen geliefert, wir haben eine Argumentation geliefert. Aber die politische Ebene berührt ja so viele Bereiche, das Steuerrecht, das Familienrecht, das Sozialrecht. Da muss es ja einen Abgleich geben. Wir sind gerade in einem Prozess, wo wir uns mit denen, die in der Praxis damit zu tun haben, an einen Tisch setzen und überlegen: Wo hakt es? Woran muss man denken?

STANDARD: Zum Schluss noch ein Blick in die Zukunft. Wenn es nach Ihnen geht, wie würden wir im Jahre 2050 arbeiten?

Jurczyk: Das wichtigste Ziel, das wir auch mit diesem Modell verfolgen, ist, dass sich die Erwerbsarbeit in einem viel ausgewogeneren Verhältnis zu anderen gesellschaftlich relevanten Tätigkeiten befindet. Das heißt, dass wir nicht nur für Erwerbsarbeit Zeit haben, sondern eben auch für Sorge. Aber auch für gesellschaftliches Engagement und uns selber. Jede Arbeit müsste eine gute Arbeit sein. Und es müsste nachhaltige Arbeit sein, also eine, die nicht unsere Welt, uns selber, die Umwelt zerstört. Das wäre meine ganz große Utopie. (Podcast/Interview: Lisa Breit, 14.4.2023)

Dieser Podcast wird unterstützt von der Arbeiterkammer Wien. Die redaktionelle Verantwortung liegt beim STANDARD.
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