Quizfrage: Welche Partei profitiert in Frankreich am meisten von der Debatte um die Pensionsreform, die Frankreich seit Wochen in Atem hält und alle anderen Themen – sogar den Krieg in der Ukraine – verdrängt? Nein, nicht die in den Demos auftrumpfende Linksunion Nupès, und auch nicht die Macron-Bewegung Renaissance, die das Ordnungsprinzip hochhält. "Die große Gewinnerin der Debatte" ist, wie das Wochenmagazin "Marianne" festhält, das Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen.

Le Pen gibt sich staatstragend.
Foto: IMAGO/Vincent Isore

Für 35 Prozent der Franzosen schlägt sie sich in dem knallharten Konflikt laut einer Umfrage am besten. Die Linksfront kommt nur auf 27, das Macron-Lager auf 26 Prozent. Das Resultat mag erstaunen. Le Pen hält sich aus den Redeschlachten in der Nationalversammlung bewusst heraus; statt wie üblich zu schimpfen und zu polemisieren, bemüht sie feierlich die Prozeduren der Fünften Republik: Einmal reicht sie einen Misstrauensantrag gegen die Regierung von Präsident Emmanuel Macron ein, dann wieder spricht sie sich für eine Volksabstimmung zum Pensionsalter aus. An den Pensionsdemos nimmt Le Pen nicht teil, obwohl sie das Pensionsalter 64 genauso wie die Linke ablehnt.

Eleganz statt Krawall

Republikanisch und seriös, eifert sie der italienischen Gesinnungsschwester Giorgia Meloni nach; und ganz anders als die hemdsärmelige und sehr laute Linke Frankreichs ist sie im Palais Bourbon, dem Sitz der Nationalversammlung, auf die französische Etikette bedacht: Die Damen ihrer Parlamentsfraktion kleiden sich auf ihr Geheiß elegant, die Herren s'il vous plaît mit Krawatte. Die neuen Manieren der sonst so rüpelhaften "Faschos" wirken, zugegeben, etwas aufgesetzt.

"Feige und unmoralisch" seien die Lepenisten, ärgert sich das Pariser Linksblatt "Libération", das aber im gleichen Atemzug zugeben muss: "Diese Haltung könnte sich an den Wahlurnen auszahlen." Und zwar noch stärker als bisher. Bei den Präsidentschaftswahlen von April 2022 hatte Le Pen zwar zum dritten Mal in Folge den Einzug in den Élysée-Palast verpasst; in den folgenden Parlamentswahlen im Juni sahnte ihre Partei RN hingegen kräftig ab, vervielfachte sie doch ihre Sitzzahl in der Nationalversammlung von acht auf 89. Die aktuelle Pensionsdebatte verstärkt diesen Trend noch.

Macron und seine Reform stoßen auf Ablehnung, Linken-Chef Jean-Luc Mélenchon gilt auch nicht als Alternative. Anders Le Pen. Viele ihrer Wählerinnen und Wähler sind besonders erbost über die Reform. Häufig als Arbeiter, Handwerker und Gewerbetreibende tätig, sind sie oft sehr früh – manchmal vor der Volljährigkeit – und ohne Ausbildung ins Berufsleben eingestiegen; deshalb haben sie nun das Gefühl, durch die Erhöhung des Pensionsalters auf 64 Jahre besonders benachteiligt zu sein. Und tendieren noch stärker als bisher zu Le Pen.

Keine Hemmung mehr bezüglich Le Pen

"Die Pensionsdebatte kann die Dynamik des RN nur stärken", schätzt der Politologe Bruno Palier. Ihm zufolge hat heute auch die Mittelschicht keine Hemmungen mehr, für die Rechtspopulistin zu stimmen. Macron habe dagegen den Kredit der Bevölkerungsmehrheit verspielt. Seine Popularität ist seit Beginn der Pensionsdebatte auf unter 30 Prozent gesunken. In einer neuen Erhebung für die Präsidentschaftswahlen von 2027 liegt Le Pen deutlich vor allen Widersachern; für den ersten Wahlgang werden ihr 31 Prozent gutgeschrieben, für die Stichwahl 55 Prozent.

Die politische Linke Frankreichs kann von den Protesten nicht so viel profitieren, wie man vielleicht erwarten würde.
Foto: IMAGO/Samuel Boivin

Hinter ihr liegt auch Macrons ehemaliger Premier Edouard Philippe, der bisher beliebteste Politiker Frankreichs. Gut möglich, dass das Präsidentschaftsrennen in vier Jahren auf ein Duell Philippe – Le Pen hinausläuft. In diesen langen Jahren wird Le Pen versuchen, abtrünnige Wähler der konservativen Republikaner für sich zu gewinnen, wie es Meloni in Italien gelungen ist. Die französischen Républicains – die in den Präsidentschaftswahlen 2022 auf 11,3 Prozent absackten – bieten auch in der Pensionsdebatte ein klägliches Bild innerer Zerstrittenheit und Orientierungslosigkeit. Wenn sie bis 2027 keine schlagkräftige Kandidatur zustande bringen, kann es Le Pen durchaus schaffen, große Teile der Rechten hinter sich zu scharen. Und das wäre wohl gleichbedeutend mit dem Einzug ins Élysée. (Stefan Brändle aus Paris, 7.4.2023)