Land's End, der westlichste Zipfel Englands, ist definitiv einen Fußmarsch wert. Autorin Pia Kruckenhauser liebt das tagelange Dahinmarschieren, sie kommt dabei in einen meditativen Flow.

Foto: Privat

Cornwall ist mein diesjähriger Sehnsuchtsort. Ewig lange Strände, wilde, steil abfallende Küstenfelsen, abwechselnd scharfer Wind, Sonne oder "Drizzle", eine Art Regengestöber, das auf der Haut prizzelt, tosende Brandung – und ich mittendrin. All das werde ich mir zu Fuß ergehen, der Blick geht dabei immer hinaus auf das unendliche Wasser.

Riesige Urzeitfelsen aus rosa Granit: Die Côte de Granit Rose in der Bretagne ist ein besonders schöner Küstenabschnitt.
Foto: Privat

Ich habe eine Leidenschaft, über die die Meinungen klar in zwei Lager geteilt sind. Die einen greifen sich an die Stirn, die anderen sind begeistert: Weitwandern. Tagelang marschiere ich mit kleinem Rucksack Wanderwege entlang, bevorzugt an einer Meeresküste. Die Amalfiküste bin ich schon abgewandert, den Camino del Norte in Spanien (das beste Essen), zuletzt die bretonische Côte de Granit Rose in Frankreich (Austernbars an gefühlt jeder Ecke). Dieses Jahr kehre ich zurück an die englische Küste. Den Teil im Südwesten des insgesamt 1.014 Kilometer langen South West Coast Path bin ich schon gegangen. Heuer starte ich ganz zu Beginn, im kleinen Ort Minehead, der sich noch in Somerset befindet, gehe die Küste des wunderschönen, charmanten North Devon ab und arbeite mich die rauen Küstenfelsen Cornwalls entlang bis nach Newquay.

Liebe auf den ersten Schritt

Ich wandere seit mittlerweile 25 Jahren. Damals, während des Studiums, war ich in einem Jahr eher knapp bei Kasse und konnte mir keinen Urlaub leisten. Also habe ich meine Südtiroler Studienkollegin und Freundin besucht, und wir sind losmarschiert. Es war Liebe auf den ersten Schritt. Das stundenlange Gehen hat mich seither nicht mehr losgelassen, egal ob in der Ebene oder auf den Bergen. Und auch im Alltag ist Gehen meine liebste Entspannung. Nach einem langen Arbeitstag spaziere ich nach Hause, dabei kann ich am besten abschalten. Gleichzeitig bekomme ich nach dem langen Sitzen zumindest ein bisschen Bewegung.

Scones mit Clotted Cream sind in Südwestengland ein Pflichtsnack. Am besten schmecken sie mit Tee bei einer Nachmittagspause in einem kleinen Fischerhafen.
Foto: Privat

Vor einigen Jahren habe ich das Gehen dann auf das nächste Level gehoben. Meine erste echte Weitwanderung hat sechs Tage gedauert, die Amalfiküste war eine wahrlich beeindruckende Kulisse. Da habe ich schon festgestellt: Das hat Suchtcharakter. Jedes Mal ist die Distanz seither etwas länger geworden, heuer kommt ein neuer Höhepunkt hinzu: 300 Kilometer an insgesamt 13 Gehtagen. Die Vorfreude ist riesig. Und ja, auch auf das Essen freue ich mich. Fish and Chips oder Pub-Roast nach einem langen Wandertag schmecken einfach köstlich. Ebenso wie der dort beheimatete Cream Tea, bei dem man Clotted Cream – einen Mascarpone-ähnlichen Aufstrich – und Erdbeermarmelade auf frischgemachte Scones schmiert. Ich gebe es zu, ich bin ein England-Fan.

Mittagspause mit Aussicht: Die Steilküste in Cornwall bietet spektakuläre Ausblicke, die zum Picknicken einladen.
Foto: Privat

Organisation ist alles

Mit einigen Jahren Erfahrung bin ich mittlerweile auf alle Eventualitäten vorbereitet. Und ich habe gelernt: Organisation ist beim Weitwandern alles. Hat man zwischen 20 und 30 Kilometer und zigtausende Schritte in den Beinen, will man wissen, wo einen die abendliche Dusche erwartet – schließlich gehört die zu den Tageshighlights. Noch ein paar Kilometer draufzulegen, weil man kein Quartier findet, ist keine gute Lösung. Deshalb werden die einzelnen Tagesetappen festgelegt, alle Zimmer vorab reserviert. Das geht mit Plattformen wie Booking oder Airbnb mittlerweile wirklich einfach, zwei Rechercheabende auf der Couch, und die Organisation ist erledigt.

Hilfreich ist es, sich im Vorfeld einen Weitwanderführer für die jeweilige Strecke zu besorgen, der den gesamten Weg beschreibt, die Distanzen zwischen den einzelnen Ortschaften und idealerweise auch die dabei anfallenden Höhenmeter auflistet. Da kommt nämlich am South West Coast Path wesentlich mehr zusammen, als man denken würde. Das ist über weite Strecken eine Steilküste, man geht meist oben entlang der Felskante. Rinnt irgendwo ein Bach ins Meer, führt der Weg in dieses Tal hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf. England ist regen- und wasserreich, also passiert das ziemlich oft. Mit einem guten Guidebook kann man machbare Tagesetappen festlegen und weiß, was einen auf den einzelnen Etappen erwartet.

Reduziertes Gepäck

Die nächste Herausforderung ist das Gepäck. Man sollte vorab einen Versuch starten, den Rucksack mit allem, was man mitnehmen will, füllen und zwei, drei Stunden marschieren, dann erkennt man gleich: Weniger ist mehr. Ich kann zum Beispiel nicht zehn Kilo tagelang schleppen, mein Limit sind sieben, inklusive Wasser und Proviant. Die machen sich zwar auch irgendwann auf den Schultern bemerkbar, sind aber erträglich – im Wortsinn. Einige Dinge sind unentbehrlich, bei anderen kann man drastisch reduzieren (genaue Packliste im Infokasten). Zwei Wanderhosen, drei bis vier Garnituren Unterwäsche und Shirts reichen aus. Die Oberteile sind aus Merinowolle, die ist geruchsneutral – denn ein gemütlicher Spaziergang ist das Unterfangen nicht, man kommt dabei ziemlich ins Schwitzen. Und natürlich braucht man leichtes, aber stabiles Schuhwerk. Bergschuhe wären beim Weitwandern völlig fehl am Platz, sie sind viel zu schwer und klobig.

Vor dem Losmarschieren: Dieser Rucksack hat fünf Kilo, dazu kommen jeweils in der Früh noch Wasser und Proviant. Das Gepäck muss für zwei Wochen reichen.
Foto: Privat

Was auf keinen Fall fehlen darf, ist eine Tube Reisewaschmittel – am Abend wird gewaschen, sonst kommt man nicht durch mit so wenig Gepäck. Sämtliche Schmink- und Make-up-Produkte bleiben dafür zu Hause, diese zu schleppen wäre ein sinnloser Luxus – nach dem Urlaub, zeigt die Erfahrung, fühlt es sich dann umso besser an, wieder einmal zu Schminke zu greifen. Ein leichtes, sportliches Extraoutfit, das nicht komplett nach Wanderkluft aussieht, kommt aber schon ins Gepäck, es tut einfach gut, wenn man am Abend etwas anderes anziehen kann. Die Kleidung kommt übrigens gerollt in den Rucksack, nicht zusammengelegt. Das spart Platz, und es knittert nicht.

Eine Garnitur stecke ich dabei immer in ein Plastiksackerl. Zwar ist die Ausrüstung theoretisch wasserdicht, aber falls man doch einmal in einen heftigen Regenguss kommt, der durchgeht, hat man zumindest eine trockene Garnitur parat. Das habe ich spätestens zu dem Zeitpunkt gelernt, als ich an der nordspanischen Küste so abgeregnet wurde, dass das Wasser bei jedem Schritt aus den Schuhen rausgespritzt ist. Nicht mal Lkw-Fahrer haben uns mitgenommen, so nass waren wir. Aber das Wetter an der Küste wechselt schnell. Als ich kurz davor war, vor lauter Nässe und Kälte in Tränen auszubrechen, hat die Wolkendecke auf einmal aufgerissen. Das Gefühl in dem Moment, in dem die Sonne durchgekommen ist, lässt sich einfach nicht beschreiben.

Einen Schritt nach dem anderen

So gerüstet kann es losgehen. Am ersten Tag plane ich tendenziell eine kürzere Etappe ein, es tut gut, sich ein wenig einzugehen, 20 Kilometer reichen. Eine durchschnittlich fitte Person kann aber ohne große Probleme 25 Kilometer gehen und das viele Tage hintereinander. Ja, natürlich ist das anstrengend. Natürlich tun die Füße weh, man fragt sich mehrmals, warum man sich das antut. Und es ist durchaus schon vorgekommen, dass ich den Liebsten angegiftet habe. Nach 34 Kilometern an der bretonischen Küste wollte er ein Bier, ich wollte nur noch meine Füße hochlagern, niemanden hören oder sehen. In solchen Momenten muss man sich sehr deutlich vor Augen führen, dass man sich freiwillig auf dieser Tour befindet. Nachdem wir das geklärt hatten, haben wir bei Austern und einem Glas Weißwein den Tag Revue passieren lassen – immerhin waren wir in Paimpol, einem Zentrum der bretonischen Austernzucht. Es wäre ewig schade um sie gewesen ...

Austern gibt es an der bretonischen Küste an jeder Ecke. Viel Eiweiß kann man beim Wandern auch brauchen, gerne auch einmal als Snack zwischendurch.
Foto: Privat

Aber diese gelegentlichen Grantanfälle werden immer weniger, beim Gehen kommt man sehr rasch in eine Art Flow. Irgendwann setzt man einfach nur noch einen Schritt vor den anderen, der überladene Kopf wird mit jedem Schritt leichter. Spätestens am zweiten Tag ist Wien weit weg, mein Handy schalte ich gar nicht mehr ein, hole es nur noch zum Fotografieren heraus. Das hat etwas sehr Meditatives und unendlich Entspannendes.

Das liegt auch daran, dass man sich so auf das Wesentliche reduziert. Essen, trinken, ein paar Shirts und Hosen. Man braucht gar nicht darüber nachdenken, ob man dieses Souvenir oder jenes Accessoire kaufen soll, diese Option gibt es einfach nicht. Denn man müsste das Teil die restlichen Kilometer mitschleppen. Das kann ziemlich befreiend sein. Am Abend esse ich Riesenportionen, die immer unglaublich gut schmecken – egal in welchem Land ich bin –, danach falle ich erschöpft, aber glücklich ins Bett und schlafe um 22 Uhr tief und fest.

Metapher fürs Leben

Beim Weitwandern geht man dort, wo es viele Touristen gar nicht hinschaffen. Man hat die schönsten Strände ganz für sich allein, kann herrliche Sonnenuntergänge genießen.
Foto: Privat

Das Wandern ist für mich eine echte Lebensmetapher. Man ist ständig in Bewegung, und trotzdem geht es sehr langsam weiter. Oft sieht man nur bis zur nächsten Kurve oder man sieht wegen Nebel und Regen gar nichts. Doch dann reißt die Wolkendecke auf und gibt die herrlichsten Landschaften und Ausblicke frei. Zwischendurch gibt es schwierige Wegstücke, die einen auch überfordern können. Umkehren ist aber meistens keine Option. Wenn man zu müde ist, strauchelt man schon einmal, Pausen sind also wichtig. Und egal, wie oft man zwischendurch genervt oder erschöpft aufgeben will, am Abend spürt man ein pures Glücksgefühl. Und trotzdem ist das nicht das Ende. Es gibt ja noch den nächsten Tag und den übernächsten, und auch die muss man bewältigen. Ich weiß, das klingt so geballt ein bisschen kitschig und fast schon esoterisch. Aber das macht es nicht weniger wahr.

Und es hat regelrechtes Suchtpotenzial. Nach jedem solchen Urlaub überlege ich deshalb gleich, wo es beim nächsten Mal hingehen soll. Weitwanderwege gibt es auf der ganzen Welt, mich zieht es aber meistens an die Meeresküste. In England und Frankreich etwa wandert man auf Zöllnerpfaden, die im 18. und 19. Jahrhundert angelegt worden sind, um den Schmugglern das Handwerk zu legen. Manche Küstenabschnitte sind richtig einsam, man geht Stunden dahin und begegnet praktisch keiner Menschenseele. Dann kommt man an einen Badestrand oder in einen Touristenort, wo gefühlt Menschenmassen sind. Diese Mischung aus Stille und Hektik, das langsame Vorankommen, die immer neuen Ausblicke, die sich hinter jeder Kurve auftun, haben einen ganz besonderen Reiz. Und das Meer und seine unendliche Weite sind das Beruhigendste, das ich mir vorstellen kann. (Pia Kruckenhauser, 9.4.2023)