Der Russe Jan Nepomnjaschtschi, die Nummer zwei der Welt.

Foto: EPA/FERNANDO VILLAR

Ding Liren, die Nummer drei der Welt.

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Spielen ein Russe und ein Chinese in Kasachstan um die Schach-WM, während jeder weiß, dass eigentlich ein Norweger der Champion ist. Was wie der Beginn eines etwas überladenen Witzes klingt, wird ab Sonntag Realität: Dann beginnt in Astana Partie eins der 49. offiziellen Weltmeisterschaft der Schachgeschichte, bei der einander Jan Nepomnjaschtschi (32) und Ding Liren (30) gegenübersitzen.

Normalerweise sind Weltmeisterschaften im klassischen Schach für alle Enthusiasten des Spiels ein Grund zum Feiern. Über drei Wochen, in denen insgesamt 14 lange Partien gespielt werden, geht das Duell. Steht es danach unentschieden, muss ein nervenaufreibender Tiebreak mit verkürzter Bedenkzeit entscheiden, wer sich für die nächsten zwei Jahre Schachweltmeister nennen darf.

Magnus Carlsen, der sich erstmals 2013 krönte, war erst der 16. Regent seit 1886, als Wilhelm Steinitz zum ersten allgemein anerkannten Weltmeister avancierte. Das allein zeigt, welch herausragende Bedeutung diesem Titel beigemessen wird. Nur: Carlsen sieht das inzwischen anders. Der Norweger, der das Weltschach seit einem Jahrzehnt fast nach Belieben dominiert, gab vergangenes Jahr bekannt, keine Lust mehr auf weitere anstrengende Titelverteidigungen gegen auf Remis mauernde Herausforderer zu haben. Carlsen hält seine Marke für stark genug, um auch ohne den Zusatz "Schachweltmeister" Bestand zu haben.

Starke Marke

Und das Problem ist: Er hat offensichtlich recht. Die Weltrangliste führt der 32-Jährige mit 2853 Elo-Punkten nach wie vor überlegen an. Und auch die "kleinen" WM-Titel in den Speed-Disziplinen Schnell- und Blitzschach holte er sich zu Jahresende nach einer Durststrecke zurück.

Da Carlsen auf sein Recht zur Titelverteidigung verzichtete, wurden beim Kandidatenturnier zu Madrid im vergangenen Jahr nicht nur ein, sondern gleich zwei WM-Tickets ausgespielt. Jan Nepomnjaschtschi, aktuell Nummer zwei der Weltrangliste, gewann überlegen. Schon das vorangegangene Kandidatenturnier 2020/21 in Jekaterinburg hatte der Russe für sich entschieden, war bei seinem ersten WM-Finale in Dubai von Carlsen jedoch mit 7,5:3,5 brutal abgefertigt worden.

Das andere Ticket löste in Madrid mit dem Chinesen Ding Liren passenderweise der Drittplatzierte der Weltrangliste, der ebenfalls schon länger als zukünftiger WM-Kandidat gehandelt worden war. Dass Ding und Nepomnjaschtschi in Astana nun einander und nicht Carlsen gegenübersitzen, erhöht ihre jeweiligen Chancen auf den Titel beträchtlich – und entwertet diesen zugleich, weil er nicht gegen den stärksten Spieler des Planeten errungen wird.

An Motivation dürfte es sowohl Ding als auch dem ob seiner Erfahrung leicht favorisierten Nepo dennoch nicht mangeln, für beide könnte es die letzte Gelegenheit sein, Schachweltmeister zu werden. Während die Duellanten derselben Generation wie Carlsen angehören, klopft mit Spielern wie Alireza Firouzja (19), Nodirbek Abdusattorow (18) oder Rameshbabu Praggnanandhaa (17) längst eine neue, mehr als zehn Jahre jüngere Gruppe an, die Ding und Nepomnjaschtschi eher früher als später den Rang ablaufen dürfte.

Kreml mit am Brett

Dazu gesellen sich politische Nebengeräusche. Zwar ist Nepomnjaschtschi im Gegensatz zum Ex-WM-Kandidaten Sergei Karjakin kein Putin-Unterstützer. Ja, er unterzeichnete bereits im April 2022 gemeinsam mit 43 anderen russischen Schachprofis einen offenen Brief, in dem ein sofortiges Ende der Kriegshandlungen gefordert wurde. Dennoch ist der Mann aus Brjansk wie alle in Russland lebenden Sportler auf staatliche Unterstützung angewiesen. Den höchsten Titel im Schach endlich wieder nach Russland zu holen wird vom Kreml als patriotische Mission betrachtet, die wie zu Sowjetzeiten die intellektuelle Überlegenheit dem dekadenten Westen gegenüber beweisen soll. Dass Nepomnjaschtschi in Astana offiziell nicht unter russischer Flagge spielen darf, ändert daran genau gar nichts.

Zumal die Fide als einziger großer internationaler Sportverband derzeit von einem russischen Präsidenten geführt wird. Wie die 2020 aus dem Iran nach Großbritannien geflüchtete internationale Schiedsrichterin Shohreh Bayat Anfang des Jahres öffentlich machte, hatte Fide-Präsident Arkadi Dworkowitsch sie während eines Turniers 2022 in Reykjavík unter Druck gesetzt, weil sie ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Women Life Freedom", der iranischen Protestparole, trug. Obwohl Bayat damit gegen keinerlei Regularien verstieß, wurde sie seither nicht mehr als Schiedsrichterin für große Fide-Turniere engagiert.

Eine Episode, die eindrücklich zeigt, warum Schach nicht so unpolitisch ist, wie viele Aficionados wünschen würden. Eine chinesisch-russische WM unter russischer Fide-Führung hat trotz sicher hochklassiger Partien einen mehr als bitteren Beigeschmack. (Anatol Vitouch, 7.4.2023)