Die Forschung zu Schwarzen Löchern hat unser Verständnis von Galaxien bedeutend weiterentwickelt.
Foto: AFP PHOTO / HO / NATURE / OzGrav, Centre of Excellence for Gravitational Wave Discovery/ Carl KNOX

Kurz nach Andrea Ghez’ viertem Geburtstag betrat der erste Mensch den Mond. Das Apollo-Programm begeisterte das junge Mädchen enorm. Aus ihrem Traum, selbst einmal ins All zu fliegen, ist zwar nichts geworden – dafür leistete sie bahnbrechende Beiträge zur Astronomie und war unter anderem maßgeblich am Nachweis des Schwarzen Loches Sagittarius A* im Zentrum der Milchstraße beteiligt. 2020 wurde sie für diese Entdeckung mit dem Physiknobelpreis ausgezeichnet – als erst vierte Frau in der Geschichte. Neue Erkenntnisse über Schwarze Löcher und die Förderung junger Frauen in der Wissenschaft treiben die Ausnahmephysikerin bis heute an.

Als vierter Frau in der Geschichte wurde Andrea Ghez 2020 der Physiknobelpreis zugesprochen.
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STANDARD: Ihre Nobelpreis-Entdeckung ist weithin bekannt. Mit welchen wissenschaftlichen Fragen beschäftigen Sie sich derzeit?

Ghez: Wir sehen uns weiterhin das Zentrum der Galaxie an, weil sich die Technologie so stark weiterentwickelt hat. So können wir neue Fragen zur Funktionsweise der Schwerkraft in der Nähe des supermassiven Schwarzen Loches stellen – das ist unsere Hauptmotivation. Weiters interessiert uns, wie das Schwarze Loch mit seiner Umgebung interagiert. Vieles von dem, was wir entdeckt haben, widerspricht den aktuellen Theorien.

Nobelpreisvorlesung von Andrea Ghez.
Nobel Prize

STANDARD: Können Sie ein Beispiel nennen?

Ghez: Wir können etwa Objekte sehen, die eng mit dem Schwarzen Loch interagieren. Das bedeutet, dass die äußeren Schichten des Objekts abgetragen werden, wenn sich das Objekt am Schwarzen Loch vorbeibewegt. Es ist wirklich bemerkenswert, dass wir Objekten dabei zusehen können, wie sie ihre Konfiguration ändern. Damit solche Interaktionen möglich sind, müssen diese Objekte viel größer sein als alles, was wir für diese Region vorhergesagt hatten. Wir müssen uns also überlegen, was diese riesigen Objekte erzeugen kann.

STANDARD: Haben Sie eine Erklärung dafür?

Ghez: Meine Lieblingsidee, was die Ursache dafür sein könnte, ist, dass sich die meisten Sterne im Universum tatsächlich als Doppelsterne bilden. Das sind also Sternpaare, die sich umkreisen, wenn sie sich dem Zentrum der Galaxie nähern. Wenn sie nah genug sind, kann das Schwarze Loch mit dem Sternenpaar interagieren, und das kann dazu führen, dass es zusammengeführt wird. Und wenn Sterne verschmelzen, wird erwartet, dass sie sich um einen Faktor 100 aufblähen. Ich denke also, wir haben es hier mit einem Prozess zu tun, der ziemlich wichtig ist, um nicht nur das Zentrum unserer Galaxie, sondern auch andere Galaxien zu verstehen.

Nobelpreisträgerin Andrea Ghez will für junge Physikerinnen ein Vorbild sein.
Foto: REUTERS/ Mike Blake

STANDARD: Wissenschaftliche Durchbrüche und technologischer Fortschritt waren immer eng miteinander verbunden, besonders in der Astronomie. Welche Technologien könnten in den nächsten Jahren wichtig werden?

Ghez: Wir haben das große Glück, in einer Zeit zu leben, in der sich die Technologie unglaublich schnell weiterentwickelt. Es gibt viele Entwicklungen, von denen ich denke, dass sie unser Verständnis von Schwarzen Löchern verändern werden. Bei meiner Arbeit geht es etwa darum, die höchstmögliche räumliche Auflösung zu erreichen, damit wir die genauesten Details sehen können. Deshalb wollen wir die Methode verbessern, wie wir die Erdatmosphäre kompensieren, um die theoretische Grenze der großen Teleskope, die wir verwenden, zu erreichen. Ein weiteres Beispiel sind Gravitationswellendetektoren, die sehr gut darin sind, Schwarze Löcher zu untersuchen. Aktuell wird an einem Gravitationswellendetektor im Weltraum namens Lisa gearbeitet. Ich denke, wir können dadurch viel mehr über die Physik supermassereicher Schwarzer Löcher lernen. Weiters wird uns das große Event Horizon Telescope ermöglichen, noch genauere Radiowellen-Beobachtungen durchzuführen. Das sind nur drei Beispiele, durch die wir in den kommenden Jahren große Fortschritte machen werden.

2022 wurde das erste Foto von Sagittarius A*, dem Schwarzen Loch im Zentrum der Milchstraße, veröffentlicht.
Foto: Reuters/EHT Collaboration/National Science Foundation

STANDARD: Es ist erst ein paar Jahrzehnte her, dass Schwarze Löcher als rein spekulative Ideen betrachtet wurden. Inzwischen sind sie aber zweifellos fest in der Physik etabliert. Welche spekulativen Ideen gibt es heute hinsichtlich Schwarzer Löcher oder Wurmlöcher, die in ein paar Jahrzehnten bestätigt werden könnten?

Ghez: Schwarze Löcher sind extrem faszinierend. Durch ihre Erforschung hat sich unser Verständnis von Galaxien stark weiterentwickelt, und sie sind zu wichtigen Bausteinen für unsere aktuellen Modelle geworden, um das gesamte Universum zu verstehen. Wir gehen heute davon aus, dass es im Zentrum jeder Galaxie ein supermassereiches Schwarzes Loch gibt und dass es ein entscheidender Teil der Entstehung und Entwicklung der Galaxie ist. Darüber hinaus gibt es viele interessante Spekulationen zu Schwarzen Löchern – etwa die Idee, dass Schwarze Löcher über Wurmlöcher Verbindungen zu anderen Teilen des Universums darstellen könnten. Das ist sehr spekulativ und fällt in den Bereich der Science-Fiction, aber es ist spannend, darüber nachzudenken. Vielleicht werden wir eines Tages in der Lage sein, Beobachtungen zu machen, die sich damit befassen. Ich denke, es gibt noch viel mehr über diese einfachen und doch sehr rätselhaften Objekte zu lernen.

Telefoninterview mit Andrea Ghez, kurz nachdem sie von der Zuerkennung des Physiknobelpreises 2020 erfahren hat.
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STANDARD: Da Sie nach Marie Curie 1903, Maria Goeppert-Mayer 1963 und Donna Strickland 2018 erst die vierte weibliche Preisträgerin in der Geschichte des Physiknobelpreises sind, würde ich Sie gerne noch fragen, welche Bedeutung Ihrer Meinung nach weibliche Vorbilder in der Physik haben?

Ghez: Ich denke, es ist wirklich wichtig, wenn man sich mit Menschen identifizieren kann, die einem zeigen, dass man selbst eine Zukunft in diesem Bereich haben könnte. Ich hatte großes Glück, dass ich in einer Familie aufgewachsen bin, die dieses Denken gefördert hat. Ich erinnere mich, dass meine Eltern mir Biografien von Wissenschafterinnen gekauft haben – beispielsweise von Marie Curie und Amelia Earhart. Diese Frauen, die auf unterschiedliche Weise Pionierinnen waren, haben mich sehr inspiriert. Sie haben meine Fantasie wirklich beflügelt. Ich denke also, dass es sinnvoll ist, wenn ich als Frau sichtbar bin. Mir ist es daher auch sehr wichtig, junge Studierende zu unterrichten. Ich denke, es ist sowohl für junge Männer als auch für junge Frauen wichtig, die Vielfalt der Menschen, die Wissenschaft betreiben, zu sehen und unsere Begeisterung zu spüren. Das ist wirklich ein Vergnügen für mich. (Tanja Traxler, 10.4.2023)