Rauchwolken, nachdem eine Rakete aus dem Libanon am Donnerstag in der nordisraelischen Stadt Bezet einschlug.

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Am ersten Tag von Pessach steht in Israel üblicherweise alles still. Wer sich bewegt, tut das, um Ausflüge zu machen oder in die Synagoge zu gehen. Nicht so dieses Jahr: Da rannten schon vor Sonnenaufgang die Menschen im Süden Israels in die Schutzräume und brachten sich und ihre Kinder in Sicherheit vor drohendem Beschuss aus Gaza. Am frühen Nachmittag gab es auch im Norden Israels, im westlichen Galiläa, Raketenalarm. Das Land wurde am Pessachtag aus zwei Richtungen beschossen – ein Lehrbeispiel in Sachen psychologischer Kriegsführung.

Während Raketenangriffe aus dem Gazastreifen auf der militärischen Tagesordnung stehen, ist die Attacke aus dem Libanon äußerst ungewöhnlich. Es war einer der schwersten Angriffe seit 2006.

Trotz dieser Tatsache warnt Sicherheitsexperte Amos Yadlin davor, den Vorfall über die Maßen zu dramatisieren. "30 Raketen – das ist keine Atombombe", sagt Yadlin, der früher Chef des israelischen Militärgeheimdienstes war. Dennoch handle es sich um eine neue Eskalationsstufe, sodass Israel unter Zugzwang steht: Nicht zu reagieren ist keine Option. Die Frage ist nur, wie – und vor allem wo.

Israels Armee bestritt am Donnerstag libanesische Angaben, wonach Israel bereits mehrere Granaten von Stellungen an der Grenze auf den Südlibanon abgefeuert habe. Aus libanesischen Sicherheitskreisen hieß es, im Süden seien Artilleriegeschosse eingeschlagen. Die israelische Armee habe "mehrere Granaten von ihren Stellungen an der Grenze" auf den Südlibanon abgefeuert.

Risiko des Kriegsausbruchs

Israels Streitkräfte ordnen den Angriff der palästinensischen Sphäre zu, die Raketen könnten also aus palästinensischen Flüchtlingslagern im Süden Libanons abgefeuert worden sein. Damit wären die Hamas und die Terrorgruppe Palästinensischer Jihad verantwortlich. Ohne Wissen der vom Iran gesteuerten Hisbollah sei ein solcher Angriff aber nicht denkbar. Das macht die Lage besonders komplex: Ein Vergeltungsschlag Israels im Libanon birgt das schwere Risiko eines Kriegsausbruchs, und "das wäre verheerend", sagt Yadlin.

Würde Israel aber, um einen Libanon-Krieg zu vermeiden, nur Ziele der Hamas im Gazastreifen angreifen, wäre die Abschreckungswirkung möglicherweise zu gering. Zumal diese angesichts der schweren innenpolitischen Krise Israels derzeit ohnehin geschwächt ist – "und unsere Feinde haben das verstanden", sagt Yadlin.

Wie Israel reagiert, wird sich in den kommenden Tagen zeigen. "Gott sei Dank haben wir (den Luftangriffsschutzschild, Anm.) Iron Dome", sagt ein Armeesprecher. "Das gibt uns die Möglichkeit, aus dem Kopf und nicht aus dem Bauch heraus zu reagieren." Anders als im letzten Libanonkrieg gibt es also keine Todesopfer oder Geiselnahmen auf israelischer Seite, die eine sofortige militärische Reaktion erzwingen.

Strategische Ziele

Israels Sicherheitsapparat könnte beispielsweise in Syrien gegen dortige Hisbollah-Ziele tätig werden und die Hamas im Gazastreifen attackieren. Wichtig sei jetzt, erst strategische Ziele zu definieren und dann zu überlegen, welche Mittel diesen Zielen dienen, sagt Yadlin. "Nicht reagieren um des Reagierens willen."

Es besteht kein Zweifel, dass die Attacke aus dem Norden ihre Wurzel in den aktuellen Vorgängen in Jerusalem hat, wo gerade der islamische Fastenmonat Ramadan und das jüdische Pessachfest zusammenfallen. Zwei Nächte in Folge war die Al-Aqsa-Moschee Schauplatz teils schwerer Gewalt. Palästinenser hatten sich dort über Nacht verschanzt, woraufhin israelische Sicherheitskräfte in die Moschee eindrangen, um sie zu räumen. Ihr Auftrag war es, Gewalt gegen Juden am Tempelberg zu verhindern. Der Schaden, den die auf allen Social-Media-Kanälen verbreiteten Bilder von Gewalt gegen Palästinenser anrichteten, wirft nun die Frage auf, ob das Vorgehen ausreichend kalkuliert war. Ein Vertreter der israelischen Armee spricht jedenfalls von einer "sehr schlechten Optik".

Optisch eher ungünstig ist wohl auch die Tatsache, dass Israels Verteidigungsminister Joav Gallant eigentlich von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gefeuert wurde – zumindest mündlich. In Schriftform dargelegt und damit offiziell wurde die Kündigung nie. Nun müssen Gallant, Netanjahu und der Generalstabschef entscheiden, wie sie auf die außergewöhnliche Attacke aus dem Norden reagieren. Mit den Folgen dieser Entscheidung müssen alle Israelis leben. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 6.4.2023)