"Cult Trip – Inside the world of coercion and control" heißt das neue Buch der Journalistin und Neuseeland-Korrespondentin Anke Richter. Darin sammelt sie zehn Jahre Sektenreportagen, von der Sex- und Therapiesekte Centerpoint und dem christlich-fundamentalistischen Gloriavale in Neuseeland über das Neotantra – #MeToo bei Agama Yoga in Thailand bis hin zu Oshos Meditationszentrum in Pune.

STANDARD: Einerseits "Handmaid's Tale", andererseits Hippies – was ist das verbindende Element zwischen diesen erst einmal so gegensätzlichen Gruppen?

Richter: Das verbindende Element ist der sexuelle Missbrauch – der übrigens das verbindende Element in allen Sekten ist. 40 Prozent aller Frauen in Sekten werden sexuell missbraucht, das ist erforscht. Sekten sind ein feministisches Problem. In den meisten Sekten gibt es einen Fokus auf Sexualität. Es wird vieles kontrolliert – was man isst, wie man schläft, und auch die Sexualität. Entweder wird gesagt, dass man asketisch leben soll und zum Beispiel Sex nur zur Fortpflanzung da ist oder dass man streng monogam ist – immer gibt es Regeln zur Sexualität.

STANDARD: In Ihrem Buch begegnen Sie Menschen und dieser ganzen New-Age-Thematik sehr vorurteilsfrei. Was sehen Sie mittlerweile selbst kritisch?

Richter: Dass ich dieses Buch überhaupt schreiben wollte, lag d aran, dass ich mich auch privat mit Themen wie Polyamorie und Sexual Healing befasst und auch selbst Kurse belegt habe. Es ist ein sehr kompliziertes, weites Feld, in das ich dann immer weiter reingeschaut habe. Meist fahren die Leute ja gar nicht zu einer riesigen Organisation wie Agama. Oft ist das ein Life-Coaching, ein Meditationswochenende oder so ein Women's Circle – da gibt es so viele gute, nette, schöne, harmlose, hippiemäßige Selbsterfahrungsangebote, die erst mal gar nicht wirklich verkehrt sind. Keiner von uns sagt "Ich will einer Sekte beitreten." Natürlich nicht! Man sucht sich den Coach aus oder das Wochenendseminar oder ein Festival, das ganz neu und aufregend klingt. Dieses Klischee vom dummen, verstrahlten, verlassenen, einsamen Sektenmitglied, das müssen wir wirklich loslassen.

STANDARD: Was sind denn ein paar der "Red Flags", auf die man als Kursteilnehmende:r achten kann?

Richter: In manchen Organisationen gilt der Sex zwischen Schüler:innen und Lehrer:innen als normal, aber sobald man Geld bezahlt hat, gibt es ein Machtgefälle. Abgesehen davon, dass man natürlich in solchen Kursen auf einem "Workshop High" ist, überflutet von Endorphinen und Dopamin, das ist alles erforscht worden. In diesem Rausch will man auch nicht außerhalb der Gruppe stehen, man will das gleiche Ergebnis, die gleiche tolle Transformation haben wie alle anderen. In so einem Zustand ist man doch gar nicht in der Lage, vielleicht mal in Ruhe ein, zwei Tage lang zu überlegen: "Will ich denjenigen wirklich, oder will ich vielleicht einfach haben, was jeder hier in der Gruppe hat? Würde das jetzt wirklich noch meiner sexuellen Heilung dienen, wenn ich nachher auf dem Zimmer mit dem Kursleiter noch 'ne Nummer schiebe?" Wenn eine Organisation nicht so aufgestellt ist, dass sie da Sicherheit bieten kann, wenn es keinen Accountability-Process gibt, niemand zur Rechenschaft gezogen wird, Menschen mit Beschwerden belächelt oder vertröstet werden, und denen immer wieder gesagt wird "Du sprichst doch aus deiner eigenen Opferhaltung, du hast doch noch so eine Opfermentalität", dann ist das extrem perfide. Bei fast allen spirituellen, aber auch vielen religiösen Gruppen gibt es dieses "Das hast du dir selber eingebrockt, das hast du selber angezogen", aber auch: "Es ist gut für deine eigene Heilung, für dein eigenes Wachstum, das ist doch eine Chance. Sei doch dankbar, dass dir das passiert ist, weil jetzt kannst du dir doch angucken, wie du darauf reagierst und was du da noch brauchst. Eigentlich solltest du doch demjenigen dankbar sein, der dir das angetan hat, der hat dir doch eine Chance gegeben, dass du jetzt wachsen kannst."

Anke Richter: "Keiner von uns sagt: 'Ich will einer Sekte beitreten.' Natürlich nicht!"
Foto: Stephanie Defregger

Das nennt man "Spiritual Bypassing" oder auch Gaslighting, und das ist fatal.

Wenn einem also immer wieder suggeriert wird, "Ne, das ist alles dein Ding", und eine Organisation gleichzeitig im Kreuzfeuer steht und es schon mal Presseberichte gegeben hat – und das kann ich als Reporterin sagen: Es braucht eine Menge, bis etwas in die Presse kommt. Es braucht so viele Checks, meistens schon irgendjemanden, der zur Polizei gegangen ist. Die Justiziare gehen da drüber und schmeißen die Hälfte wieder raus. Wenn man online einen Medienbericht findet, kann man davon ausgehen, dass das wirklich nur die Spitze des Eisbergs ist.

Und das ist ein ganz guter Lackmustest: Wenn Organisationen ihre #MeToo-Momente haben – was passiert dann? Sind die Führungskräfte dort bereit, irgendeine Form von Rechenschaftsprozess zu machen oder wird defensiv reagiert und mit Gericht gedroht?

STANDARD: Bestimmt hören Sie oft die Frage: "Ist nicht eigentlich eh alles eine Sekte?" – Woran erkennt man denn, dass es eine sein könnte?

Richter: Es gibt natürlich in jeder Religion sektenähnliche Organisationen. In der katholischen Kirche gibt es, zum Beispiel im Umgang mit Pädophilie, die absolut gleichen Strukturen. Aber es muss noch mehr dazukommen, damit man es als Sekte bezeichnen kann. Ich habe meine eigenen Abkürzungen aus dem Wort "Cult" entwickelt:

C steht für Control, Coercion – auf Deutsch Zwang und Kontrolle. U steht für Unity, also Zusammenhalt – man glaubt an etwas Gemeinsames, hat ein gemeinsames Ziel: Niemand ist allein in einer Sekte, eine Sekte ist immer eine Gruppenerfahrung. L steht für Love – da ist auch immer viel Liebe, viele Menschen gehen mit absolut guten Intentionen und viel Liebe an die Sache heran, und das ist ja auch das, was Außenstehende vielleicht oft nicht so verstehen – das Gute führt zum Bösen, denn ohne das Gute wäre ja niemand dabei. T steht für Transformation, also Veränderung. Wenn Leute ein Training gemacht haben, zum Beispiel ein Wochenende lang, und danach so drauf sind: "Wow, mein Leben ist anders, ich hab was erkannt, der Knoten ist geplatzt." Manchmal ist das auch eine neue Persönlichkeit, die man als Cult-Persona bezeichnen würde, sie haben sich etwas übergestülpt. Aber erst mal kommt es einem so vor, als hätte man eine neue Seite von sich erlebt, die einen befreit. Und diese Transformation ist auch eine Droge, und was sich am Anfang wie eine Befreiung anfühlt, kann später eben auch schnell zum Gefängnis werden.

Dann sind es oft diese kleineren Sachen: Wird einem gesagt "Du musst jetzt aber bitte immer im Gruppenraum bleiben, weil sonst stört das die Energie" oder wird von Anfang an gesagt: "Ich schlage das vor, aber wenn du etwas anders machen willst, ist das voll okay, lass es uns vielleicht nur kurz wissen."

STANDARD: Ich bin einmal nach einem halben Tag aus einem siebentägigen Tantra-Seminar abgehauen – es gab keine Klotüren, keine Einzelzimmer, nur Yogamatten auf dem Boden –, alles, um die eigenen "Hemmungen" zu überwinden. Bei einem Verhältnis von drei Frauen auf etwa zehn Männer. Als ich dem Workshopleiter meine Entscheidung zu gehen mitgeteilt habe, wurde mir gesagt, ich sei dann wohl offensichtlich noch zu unreif für meine magische Transformation.

Anke Richter, "Cult Trip – Inside the world of coercion and control". 22,– Euro / 352 Seiten. Harper Collins, 2022
Foto: Harper Collins Publishers New Zealand

Richter: Es ist doch fucked up, oder? Keine Klotüren, das gab es auch bei Centerpoint, der Therapiesekte hier in Neuseeland. Und darüber kann man natürlich auch diskutieren, natürlich gibt es viel konditionierte Scham rund ums Thema Sauberkeit, wo wir uns fragen können: Nutzt uns das? Aber manchmal wird dann auch so viel Scham abgebaut, dass es zu Übergriffen kommt, deswegen sehe ich das superkritisch. Manchmal wünschte ich, bestimmte Leute aus dieser Szene würden auch mal ein bisschen mehr Schuld fühlen und nicht immer nur diese Scham überwinden wollen.

Ich verstehe den Ansatz dahinter, aber die Neotantra-Szene (Anm: Neotantra nennt man westliche Popularisierungen der hinduistischen und buddhistischen esoterischen Lehre des Tantra) gibt es nun auch schon seit den 1970ern, und da hat es doch mittlerweile genug Opfer und genug Schaden gegeben in dieser ganzen New-Age-Therapieszene, mit Gestalt und Encounter. Diese ganze Schreierei, mit Hauruck alles rausholen, und das Leben ist in 24 Stunden anders. Das hat Leute auch kaputtgemacht, das weiß man doch mittlerweile alles. Andere Berufszweige müssen sich doch auch updaten und bestimmten Standards folgen.

STANDARD: Dieser ganze "Sexual Healing"-Markt: Sollte es dafür so eine Art Gütesiegel oder einen Code of Conduct geben?

Richter: Das ist eine schwierige Diskussion. Hier in Neuseeland diskutieren wir "Safe Spaces" versus "Transformative Spaces". Alle, die traumainformiert arbeiten, sagen "Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit", und dann gibt es die, die sagen, Sicherheit kann man sich nur selber geben, das kann nicht von außen kommen. Damit liegt der Druck auf einem selbst – wer sich nicht sicher fühlt, macht etwas falsch – Bullshit! Ich kann aber gut verstehen, wenn Leute diese ganzen Warnungen hören und sagen: "Ja, aber ich würde trotzdem gerne mal so einen Kurs machen, ich bin doch auch neugierig."

Und man kann Leuten doch auch diese besser geführten Erlebnisse anbieten. Ich bin nicht dagegen, dass Leute crazy Shit machen oder extreme sexuelle Erfahrungen. Dann müsste man ja die ganze Kink-Szene verbieten. Man kann im Konsens miteinander völlig extreme Sachen machen, aber dafür braucht es Sicherheitsmaßnahmen, Safewords und Absprachen.

Hätten wir generell einen besseren, gesünderen, freieren Umgang mit unserer Sexualität, würde auch weniger Schlimmes und Schlechtes in diesen Neotantra-Gruppen passieren. Dann würde man mit denen eher umgehen wie mit einem normalen Berufszweig, einfach ein Service, den man in Anspruch nehmen kann. Etwa so wie ein Sportzentrum, wo man auch genau hingucken kann: Machen die das richtig? Nicht so etwas Komisches, Verschwurbeltes, Geheimnisvolles. (Theresa Lachner, 8.4.2023)