#Meaoiswiamia: Die Autorin Christina Maria Landerl präsentiert am 29. April gemeinsam mit Ronny Aviram ihr Buch "TelAviVienna" im Museum der bildenden Künste in Leipzig, 18 Uhr.

Link: gastland- leipzig23.at

Foto: Ronny Aviram

Heile Welt, in die ich geboren werde, heile Landschaft, heile Familie, in der ich aufwachse: Vater, Mutter, zwei Mädchen, ein Bub. Ein altes Bauernhaus, ein Vierkanthof inmitten von Wiesen und Feldern, nahe am Wald. In der Ferne sind die Berge zu sehen, blau sind die Berge und weiß geschliert, nicht nur im Winter.

Morgens stehen die Rehe zwischen Haus und Wald, auf der Wiese vor den Fenstern. Tau liegt auf dem grellgrünen Gras. Der Rehbock bewegt sich zum Gartenzaun, zu den Rosenstauden, beißt die frischen Knospen ab.

Meine Mutter ist sauer. Meine Mutter ist nicht lange sauer deswegen, sie hat andere Probleme. Sie hat keine Zeit, keine Kraft mehr dafür, meine Mutter ist schwer krank. Sie ist 34 Jahre alt und hat Brustkrebs. Der Krebs ist, wie sich Jahrzehnte später bestätigen wird, genetisch bedingt.

(Wald)

Als meine Mutter stirbt, bin ich kaum neun Jahre alt. Daheim gerät etwas aus dem Gleichgewicht, ist etwas zerstört; lauter Löcher, auch in meiner Erinnerung an diese Zeit. Woran ich mich erinnern kann, sind starkes Kopfweh, Angst und der Wald.

Der Wald nahe unserem Haus ist ein Mischwald, in dem lichte Laubbäume, Sträucher und Nadelbaumgruppen nebeneinanderstehen; ein Teil davon gehört der Familie.

Dieser Wald scheint unbeeindruckt und unverändert auf die Wiesen, auf die Berge und auf das Haus zu schauen, in dem meine Mutter gestorben ist.

Die Angst vor der Krankheit, über die ich kaum etwas weiß, deren Auswirkungen ich aber kennengelernt, die ich miterlebt habe, hat bereits angefangen. Ich nehme sie mit in den Wald, versuche mich zu beruhigen im kühlen Dunkel zwischen Fichten und Tannen, Farnen und Klee, rieche das Moos und die Pilze, ich höre die Tiere. Dann klettere ich auf einen der Laubbäume am Waldrand, sitze auf einem fast waagrechten Ast und bin froh über die Entfernung; die Felder, die Wiesen, die zwischen mir und dem Hof liegen.

Das Kopfweh wird besser.

Manches verstört mich jedoch im Wald: der Geruch nach Schimmel, Moder, Verwesung. Das Getier im Geäst, ich weiß nicht, was für Tiere das sind: liebe Eichhörnchen oder widerliche Ratten? Ich höre es knacksen im Nadelwald – sind das Rehe, Füchse, Marder, Menschen? Der Jäger, der sich womöglich, man weiß es nicht, auch im Wald aufhält – wird er gleich einen Schuss abfeuern? Ich weiß, es ist seine Aufgabe, den Wildbestand im Zaum zu halten, weil die Rehe die Triebe der Bäume abbeißen und somit den Wald bedrohen. Es ist notwendig, ein Gleichgewicht herzustellen, mein Vater (oder meine Mutter) hat es mir früh schon erklärt.

Außerdem machen mich die braunen, ihre Rinde verlierenden Nadelbäume beklommen; sie scheinen an einer seltsamen Krankheit zu leiden. Aber niemals frage ich zuhause, was den Bäumen fehlt.

Die Angst geht nicht mehr weg.

(Kunststoff)

Ich schreibe diesen Text in den Tagen vor einer Operation. Anfang letzten Jahres erkrankt meine Schwester an einer aggressiven Form von Brustkrebs. Der Gentest, der unvermeidlich auf die Diagnose folgt, fällt positiv auf die BRCA2-Mutation aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch ich diese seltene Genveränderung trage, liegt somit bei fünfzig Prozent. Monate warte ich auf das Ergebnis des Tests, den ich nach kurzem Zögern auch vornehmen habe lassen, und bin schließlich kaum überrascht. Die Last kam mir immer schon schwer vor. Das Risiko, im Lauf meines Lebens auch krank zu werden, steigt durch diesen Befund – scheinbar mit einem Schlag – auf fast neunzig Prozent; so hat es die freundliche Ärztin im Zentrum für familiären Brust- und Eierstockkrebs für mich ausgerechnet. Wenige Wochen später entscheide ich mich für eine beidseitige Mastektomie.

Meine Brüste haben, von Natur aus, beinahe den goldenen Schnitt, sagt die Chirurgin beim Vermessen; sie spricht über die Abstände der Mamillen zu anderen Stellen meines Körpers, ich höre nicht genau zu. Es soll mir wohl schmeicheln, mich freuen in dieser unangenehmen Situation. Diese Brüste werden bald durch den Schnitt dieser Ärztin zerstört werden; erst aufgeschnitten, dann ausgehöhlt, der Hautmantel bleibt bestehen; anschließend wieder befüllt mit Silikon. Eigenes Gewebe wäre besser, natürlich. Aber dafür bin ich keine ideale Kandidatin, dafür müsste mehr Fettgewebe vorhanden sein. Keine Sorge, sagt die Ärztin, es wird alles gut werden, es wird schön verheilen, zwei Narben unter den Brüsten, ansonsten wird alles so aussehen wie vorher.

Auch die Form der Brust habe ich von meiner Mutter geerbt, soweit ich mich an ihren Körper erinnern kann.

(Steine)

In den letzten zehn Jahren habe ich die Texte Adalbert Stifters entdeckt. Am liebsten und immer wieder lese ich die Erzählungen in Bunte Steine, einem Band, der für Kinder und Jugendliche gedacht war. Mich trösten die vielen Beschreibungen der Formen und Farben der Wälder, der Berge, der Seen und Bäche, der Sträucher, Blätter und Steine; der kleinen Dinge, der großen.

Die Landschaft, die in meinem Kopf entsteht, ist schön, malerisch und ruhig; aber sie bleibt es meist nicht, nicht in Bergkristall: Zwei Geschwister verirren sich in einem Schneesturm auf einem Berg, müssen Angst haben zu erfrieren. Nicht in Katzensilber, in dem ein Hagelunwetter mehrere Kinder und ihre Großmutter bedroht. Und nicht in Granit, denn vor der Pest in die Wälder zu flüchten, rettet die Familie nicht, im Gegenteil: Irgendwann sitzt der Bub allein im fürchterlichen großen Walde, seine Eltern sind an der Seuche gestorben, und er findet den Weg ins Freie nicht mehr. Die Idylle, die ich in diesen Texten finde, verbirgt sich im sanften und aufmerksamen Umgang der Menschen miteinander, mit und unter den Kindern. Mir scheint das ungewöhnlich, unnatürlich beinahe; es rührt mich und es beruhigt mich. Und keine Sorge: Alle diese Erzählungen gehen am Ende gut aus.

(Schnee)

Mein Vater schickt mir ein Foto, das meine zwei jüngsten Neffen im Schnee zeigt, der bei ihnen jetzt, Anfang April, unverhofft noch einmal in großen Mengen gefallen ist. Sie stehen auf der weißen Wiese vor dem Haus, sie scheinen sich zu freuen. Hinter ihnen die beschneiten Felder und der Wald: die weiß überzogenen kahlen Äste und Zweige der Laubbäume, grünschwarz kommt der Nadelwald dahinter durch.

Seit der Erkrankung meiner Schwester, seit sich herausgestellt hat, dass alle Kinder meiner Mutter, auch mein Bruder, die Genmutation tragen, ist unsere Familie ein wenig enger zusammengewachsen. Zumindest ist das mein Gefühl; es hat sich gezeigt, dass wir etwas teilen. Vielleicht bin nur ich näher an die Familie herangekommen, vorsichtig, wie das Reh aus dem Wald manchmal fast bis ans Fenster kommt.

Vermutlich hat dieses neue Gefühl der Nähe auch mit den Kindern zu tun, die in den neuen Familien meiner Geschwister aufwachsen: fünf Buben, kein Mädchen, in unserem Fall ist das ein Segen. Die drei Kinder meines Bruders wachsen dort auf, wo ich aufgewachsen bin, spielen jeden Tag zwischen Wald und Haus.

Einmal gehe ich mit ihnen in den Wald, zeige ihnen meinen Baum (aber ich weiß nicht; ist er es wirklich, oder wurde er in der Zwischenzeit abgeholzt), sie zeigen mir ihren. Anschließend tragen wir gemeinsam die Flaschen nach Hause, die aus den Fenstern vorüberfahrender Autos zwischen die Bäume geworfen wurden; wir schütteln traurig die Köpfe dabei.

Diese Kinder haben meine Mutter nie kennengelernt, die unversehrte Familie, die wir waren, nicht erlebt; und nicht deren Verletzung. Aber vielleicht – kommt es immer stärker als Ahnung in mir auf, denn erinnern kann ich mich kaum – hat es dieses heile, natürliche Ganze auch davor nicht gegeben.

"Sie scheinen an einer seltsamen Krankheit zu leiden", schreibt Christina Maria Landerl: "Aber niemals frage ich zuhause, was den Bäumen fehlt."
Foto: Getty Pictures

(Pappe)

Ich telefoniere mit meiner Schwester, erzähle von meiner präventiven Operation. Sie hat die Chemotherapie überstanden, auch den Eingriff, den ich vor mir habe, schon einige Monate hinter sich; es ist gut ausgegangen, oder? Ich frage sie, ob mittlerweile von Heilung gesprochen werden kann; sie sagt: medizinisch wohl erst nach fünfjährigem Freisein von Krebs. Aber sie fühle sich geheilt. Es gehe ihr gut; eigentlich sei es ihr in ihrem Leben noch nie so gut gegangen wie jetzt.

Eine meiner neueren Leidenschaften – ich teile sie mit meiner Schwester – ist das Legen von Puzzles, die Landschaften zeigen. Meistens sind es Gemälde, auf denen ein Bächlein und Bäume in romantischem Abendlicht, oft auch ein gemütliches Holzhaus zu sehen sind. Ich finde die Bilder kitschig und schön; es beruhigt mich, sie zusammenzubauen.

Die Tage bis zur Operation verbringe ich damit, diesen Text zu schreiben und ein Puzzle zu legen; es handelt sich um eine Gebirgslandschaft in Tirol – schön ist der dunkelgrüne, fast schwarze Nadelwald, den ich Teil für Teil zusammensetze, sind die blau-lila Berge mit weißen Schlieren, sind die Kühe und der eisgraue langzeitbelichtete Bach. Aber mir gefällt manches nicht, kleine Dinge: die jungen Bäume, die einen hölzernen Zaun um sich haben; vermutlich, um sie vor dem Rehbock zu schützen.

In den Nächten habe ich Angst vor dem Krankenhaus und träume, dass in meinen Naturbildern Löcher bleiben, weil ich mir mehrere Puzzleteile in den Mund gesteckt und sie hinuntergeschluckt habe und diese unwiederbringlich verloren sind. Als ich fertig bin, zerstöre ich das Puzzle umgehend und lasse die tausend bunten Teile zurück in den Karton fallen. In Wirklichkeit hat keines gefehlt.

(Holz)

Ich rufe meinen Vater an, frage ihn: Warum waren manche Nadelbäume in unserem Wald braun und krank, war es der saure Regen? Mein Vater erzählt mir von seinem lebenslangen Kampf gegen den Borkenkäfer, der die Fichte befällt. Er legt seine Eier unter der Rinde ab. Die Raupen schlüpfen, die Rinde fällt ab, die Bäume haben dann keinen Schutz mehr, es fehlt ihnen Flüssigkeit, sie werden dürr. Lange ist der Befall gar nicht sichtbar; dann werden die Raupen zu Käfern, fliegen weiter, legen ihre Eier unter die Rinden der Bäume rundum. Was gegen den Borkenkäfer getan werden kann, will ich wissen. Mein Vater sagt: Was macht man, hör zu: Die Motorsäge holen, den Baum umschneiden, aus dem Wald verbringen; so schnell wie möglich, damit die anderen Bäume nicht auch erkranken.

(Moos)

Vor einigen Jahren habe ich in einer Weiterbildung über die verschiedenen Anteile gelernt, die wir in uns tragen. Unsere verletzten inneren Kinder melden sich regelmäßig, sie wollen noch etwas von uns, wollen versorgt und geheilt werden. Ich denke an dieser Stelle sofort an das zehn, elf, zwölf Jahre alte Kopfschmerz-Kind, das nicht zuhause sein will; an dessen Angst ich mich nicht erinnern will.

Was macht man damit? Es gibt Methoden, die helfen können: zum Beispiel die Vorstellung eines Ortes, an dem sich so ein Kind wohlfühlen kann, wo es sicher ist.

Natürlich kommt sofort der Waldrand als Bild in mir auf. Ich stelle mir ein hölzernes Häuschen auf einem Laubbaum vor, eine Art Hochstand, in dem ich das Kind unterbringe: Unten wacht ein freundliches Tier, ein sehr starker Hase vielleicht; kein Fuchs und kein Marder kann zu dir nach oben. Es gibt auch keine Insekten, die beißen, keine lästigen Ameisen. Wir könnten das Waldstück absichern, mit einem Zaun, der unsichtbar ist, aber sei beruhigt: Kein Jäger kann eindringen hier. Gut riecht es von unten herauf; nach Tannen, nach Pilzen, nach Moos, zu hören sind die Vögel, die singen. Das Wetter ist angenehm, warm; die Blätter und Nadeln der Bäume sind grün und bleiben es auch.

Hier kannst du bleiben. Das Baumhaus im Wald hat ein Fenster nach draußen: Du kannst von hier aus den Vierkanthof sehen, der alleine steht; die Getreidefelder, Obstbäume und Wiesen dazwischen. Hinter dem Haus, in der Ferne, sind die Berge zu sehen, die blau sind und weiß geschliert.

(Epilog: Mais)

In den Monaten nach meiner Operation verbringe ich immer wieder einige Tage, ganze Wochen in dem alten Bauernhaus, das dem Wald gegenüberliegt.

Seit die Schnitte an meinem Körper zuwachsen, wächst auch der Mais, in diesem Jahr auf dem Feld zwischen Wald und Haus; er wächst höher und höher, viele Meter hoch.

Ende Juli steht der Mais so hoch, dass er den Blick vom Haus auf den Wald fast ganz versperrt. Ich erinnere mich nicht daran, dass die Stauden früher jemals so hoch gewachsen sind, obwohl ich doch damals viel kleiner war. Als Kind habe ich gern in den Feldern gespielt, ich mochte die Kühle und den Geruch, habe die Kolben gepflückt und gegessen.

Mein Vater, eine Freundin meines Vaters und ich sitzen unter dem Kastanienbaum vor dem Haus; meine Neffen und ihre Eltern sind im Urlaub. Wir schauen auf das Feld, ich glaube zu bemerken, dass der Mais an dieser Stelle noch höher steht als auf den Feldern rundum.

Die Freundin meines Vaters sagt, das Schlimme für sie sei nicht die Höhe der Pflanzen, sondern die Unsicherheit darüber, was sich im Maisfeld verbirgt – was ihr unerwartet ins Auto springt nachts. Kurz denke ich, sie spricht von Mördern, Zombies, Aliens; von den unheimlichen Gestalten, die sich in amerikanischen Filmen im Mais verstecken. Sie meint aber das Wild, den Rehbock, der sich nun im dunklen Grün der Stauden und ihrer Blätter aufhält.

Auch die Form der Brust habe ich von meiner Mutter geerbt, soweit ich mich an ihren Körper erinnern kann.

Mein Vater meint, die Maispflanzen seien jetzt auch nicht höher als früher, und der Kukuruz, wie er sagt, ihm schon immer ein Horror, weil er ihm die Aussicht nehme.

Mein Vater und ich streiten uns jetzt wieder öfter; unsere Erinnerungen an früher gehen in manchem auseinander.

Im Übrigen wurde alles Unberechenbare, alles Gefährliche erfolgreich aus meiner Brust entfernt; und ich weiß ganz genau, was sich jetzt an seiner Stelle befindet: Implantate aus Kunststoff, jederzeit als Fremdkörper spürbar. Die Form der Brüste hat sich verändert, auch habe ich das Gefühl, dass sie etwas größer sind als vor dem Eingriff. Die langen, roten Narben darunter sind sehr gut sichtbar und werden es bleiben.

Die Natur wird feindlich, sagt mein Vater einmal, als er aus dem Wald kommt; die Brennnesseln und Brombeerstauden breiten sich hemmungslos aus, überwuchern alle Wege, sodass er nicht mehr an die Pilze herankommt, die Hitze ist schrecklich; und die Bremsen werden immer aggressiver, ihre Stiche schmerzhafter.

Nur aus den Fenstern der Kinderzimmer im Obergeschoss kann ich, über die rotbraunen Blüten der Maisstauden hinweg, den Wald sehen; kann ich seinen Umriss, wie ich mich aus der Entfernung an ihn erinnerte, ungefähr wiedererkennen.

Ich denke an das Baumhaus, das ich für mein jüngeres Ich gebaut habe, und ich weiß, dass es in einem erfundenen Wald steht, einem, in dem ohne Widrigkeiten Pilze gefunden und gepflückt werden können, einem Wald ohne mutierte Insekten und Brennnesseln, ohne Borkenkäfer. Und ich denke, vielleicht schadet es nicht, wenn auch diesen Wald ein Feld voller schwer überblickbarer Maisstauden von dem großen Haus trennt und er dadurch – nur ein wenig – davon wegrückt. Die blauen Berge dahinter, deren Schlieren niemals wegschmelzen, sind vom Waldrand aus immer noch gut zu sehen. (Christina Maria Landerl, 9.4.2023)