Ständiges Snacken wird bereits im Babyalter antrainiert. Wer nicht lernt, dass es zwischen den Mahlzeiten auch Essenspausen gibt, wird irgendwann kein Sättigungsgefühl mehr kennen.

Foto: Getty Images

Fachleute schlagen seit Jahren Alarm: Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Übergewicht steigt rasant. Das war schon vor der Corona-Pandemie so, seit den Lockdowns und den damit verbundenen Schließungen von Schulen und Sportvereinen scheint sich die Lage nochmals zugespitzt zu haben. Der aktuelle HBSC-Bericht, der das Gesundheitsverhalten von Schülerinnen und Schülern alle vier Jahre zusammenfasst, zeigt, dass jeder vierte Bub in Österreich bereits übergewichtig ist. Bei den Mädchen ist die Zahl etwas geringer. Da sind es um die 17 Prozent – also immer noch knapp jedes fünfte Mädchen.

Aus dem Bericht lassen sich auch einige Gründe für das steigende Übergewicht ablesen: Gerade einmal die Hälfte der Burschen ist täglich zumindest eine Stunde körperlich aktiv. Bei den Mädchen sind es sogar nur 30 Prozent. Noch bedenklicher: Zwischen acht und 17 Prozent der Schulkinder bewegen sich kaum. Dazu kommen Fastfood, Süßigkeiten und Softdrinks. Schuld an dem Bewegungsmangel scheint vor allem die Bildschirmzeit zu sein. Eine Studie, die im JAMA Network erschienen ist, bestätigt, was ohnehin plausibel zu sein scheint: Jugendliche, die über acht Stunden täglich vor dem Computer oder Fernseher sitzen, weisen auch den höchsten Body-Mass-Index (BMI) auf. Gleichzeitig fällt bei ihnen die Schrittzahl pro Tag auch am geringsten aus.

Leberverfettung im Kindesalter

Dass Adipositas schon bei Kindern ein großes Problem darstellt, beobachtet auch Susanne Greber-Platzer, Leiterin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde in Wien: "Es sind bereits 20 bis 25 Prozent unserer Kinder und Jugendlichen in Österreich übergewichtig oder adipös. Die Gesamtzahl blieb im letzten Jahrzehnt eher gleich, während der Anteil an extremer Adipositas deutlich zugenommen hat. Leider kam es zuletzt zu einem durch den Lockdown in der Corona-Pandemie bedingten Anstieg." Neben den psychischen Problemen, die viele dieser Kinder mitbringen – sie werden häufig gehänselt, können sich nicht gut bewegen und viele ziehen sich immer weiter zurück –, spielen gesundheitliche Faktoren eine große Rolle. "Bereits bei Kindern und Jugendlichen mit Adipositas kann man eine Leberverfettung nachweisen, die im Erwachsenenalter im schlimmsten Fall zur Leberzirrhose, dem Endstadium der Leberschädigung, führen kann."

Aber damit nicht genug, Adipositas hat viele weitere Folgen: Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Belastungen, verschiedene Stoffwechselstörungen wie hohe Blutfette oder gestörter Zuckerabbau, der schlussendlich zum Diabetes Typ 2 führt, können bereits früh auftreten. "Durch eine fett- und zuckerreiche Ernährung steigt der Bedarf an Insulin. Der Körper muss immer mehr Insulin produzieren, um den Blutzuckerspiegel im Normbereich zu halten, irgendwann schafft das Körper nicht mehr, und es kommt zum Diabetes Typ 2", erklärt Greber-Platzer. Die Zahlen sprechen für sich. Eine vor kurzem veröffentlichte Analyse des Deutschen Diabetes-Zentrums zeigt, dass zwar die Neuerkrankungen an Diabetes Typ 2 etwas rückläufig sind, allerdings nahmen sie in der Altersgruppe der 20- bis 39-Jährigen zu – fast immer die Folge zu hohen Zuckerkonsums in der Kindheit.

So weit muss es jedoch nicht kommen. Wer früh genug die Bremse zieht und es mit Bewegung und vollwertiger Ernährung schafft, ein paar Kilos zu verlieren, kann vieles wieder wettmachen. "Wenn Kinder und Jugendliche mit Adipositas ihren BMI reduzieren können, sind die meisten der Folgeschäden noch reversibel. Der Körper schafft es, sich wieder zu regenerieren. Im Erwachsenenalter sind oft schon schwerwiegende Schäden an den Organen vorhanden, da sieht das häufig anders aus", erklärt Greber-Platzer.

Snacks als Trostmittel

Doch das ist leichter gesagt als getan. Jede oder jeder, der schon einmal versucht hat, seine Ernährung grundlegend zu verändern, weiß, wie schnell man wieder in alte Gewohnheitsmuster verfällt. Das bestätigt auch Ernährungswissenschafterin und Buchautorin Veronika Ottenschläger: "Wichtig ist, dass die ganze Familie mitmacht. Man muss ja wieder eine Struktur und einen Rhythmus ins Essen zu bekommen." Deshalb sollte es klare Zeiten für drei Mahlzeiten geben und maximal ein bis zwei Jausen zwischendurch. "Das Schlimmste bei Übergewicht ist das permanente Snacken."

Das beginnt aber oft schon im Baby- und Kleinkindalter. Kaum eine Mama oder ein Papa gehen ohne Snacks aus dem Haus. "Leider wird vielen Babys und Kindern immer noch Essen zur Beruhigung angeboten", sagt die Expertin. Das muss gar nicht der Schokoriegel sein, oft sind es vermeintlich gesunde Knabbereien. Nicht umsonst werden die Abteilungen für Kindersnacks in den Drogeriemärkten ständig größer. Da gibt es Fruchtschnitten, Maiskringel oder ganze Reihen voll mit Quetschies in den exotischsten Geschmacksrichtungen. Und alle haben eines gemeinsam: Sie werben damit, dass kein Zucker zugesetzt wurde. Ein Marketingschmäh, der weitreichende Konsequenzen haben kann, sagt Ottenschläger: "Gerade die Quetschies werden sehr schnell getrunken und enthalten eine große Menge Fruchtzucker. Man vergisst, wie viel Energie da tatsächlich in das Kind hineinkommt."

Hie und da ein Quetschie wäre dabei nicht das Problem, das entsteht eher bei dem, was danach noch kommt. Denn häufig bleibt es nicht beim Fruchtmus. Beim nächsten Mal Quengeln gibt es das Kipferl, dann die Babykekse und schließlich noch die Banane. Die Gefahr dabei: Zum einen steigt der Blutzuckerspiegel bei den Kleinen ständig an, und es kann somit bereits in ganz frühen Jahren zu einer Fettleber kommen. Und zum anderen lernen die Kinder kein Sättigungsgefühl mehr kennen. Um aus dieser Spirale auszusteigen, empfiehlt die Ernährungsexpertin, dass "Mahlzeiten und auch Snacks, so gut es geht, nur am Esstisch verzehrt werden sollten. Alles, was zwischendurch in den Mund wandert, wird nicht richtig wahrgenommen, und die Babys und Kinder gewöhnen sich daran, dass es ständig Nachschub gibt." Mit der Zeit geht das natürliche Sättigungsgefühl verloren.

Sitzschalen und Babywippen fördern Bewegungsmangel

Auch Kinderärztin Greber-Platzer bestätigt, dass oft bereits im Säuglings- und Kleinkindalter der Grundstein zum Übergewicht gelegt wird: "Manche Eltern glauben, dass die Muttermilch allein nicht ausreicht, und geben zusätzlich schon sehr früh Babysäfte, in dem Glauben, sie würden ihren Kindern etwas Gutes tun." Dabei gilt: Vollgestillte Kinder oder auch Kinder, die die Flasche bekommen, brauchen im ersten Halbjahr keine zusätzliche Flüssigkeit und schon gar keine Säfte. Erst mit dem Beginn der ersten Beikost zwischen dem vierten und sechsten Lebensmonat ändert sich das. Aber auch dann sollten ausschließlich Wasser oder ungesüßte Tees angeboten und Säfte in jeglicher Form vermieden werden.

Auch die Bewegung sollten Eltern bereits ab dem Babyalter fördern, betont Greber-Platzer: "Sobald die Babys anfangen, sich zu drehen und zu strampeln, sollte ihnen genügend Freiraum geboten werden, damit ihre Motorik gefördert wird. Ständiges Sitzen in Sitzschalen, Babywippen oder Ähnlichem lässt den Kindern zu wenig Möglichkeiten für Bewegung." Besser: Immer wenn möglich eine Decke ausbreiten und den Kindern, ob zu Hause oder auch draußen im Park, viel Platz für Bewegung ermöglichen.

Abnehmen als Familienprojekt

Aber nicht immer sind Bewegungsmangel oder zu viele Snacks schuld am Übergewicht. Auch die Psyche der Kinder spielt eine wesentliche Rolle. So kann Essen etwa ein Ausdruck von Autonomiebestrebung sein. Ernährungswissenschafterin Ottenschläger erklärt: "Da spielen dann beim Essen ganz andere Dinge mit hinein. Etwa zu wenig Aufmerksamkeit oder auch Stress in der Schule." Daneben kann auch zu wenig Schlaf bei Kindern und Jugendlichen dazu führen, dass das Schlafdefizit über eine erhöhte Energieaufnahme am Tag kompensiert wird.

Wie eng psychische Gesundheit und Übergewicht zusammenliegen, betont auch die Kinderärztin: "Kinder mit Adipositas kennen ihren Körper und wünschen sich oft, anders auszusehen. Wegen des Gewichts gehänselt zu werden ist extrem belastend und führt oftmals zur sozialen Isolation." Kinder reagieren hier oft unterschiedlich. Manche werden aggressiv, andere ziehen sich zurück und werden sogar depressiv. Darum plädiert sie dafür, sich bei übergewichtigen Kindern nicht nur auf einen gesunden Lebensstil zu konzentrieren: "Es reicht nicht aus, den Kindern zu sagen, wie ausgewogene Ernährung und richtige Bewegung aussehen. Es braucht ein multimodales Programm aus Verhaltens-, Ernährungs- und Bewegungstherapie." Dabei ganz wichtig: "Die ganze Familie muss mitmachen. Jedes Kind hat seine Eltern als Vorbild. Wenn sie nichts an ihrer Lebensweise ändern, wird das Kind es kaum schaffen können." (Jasmin Altrock, 12.4.2023)