Frieden? Streit gibt es in Nordirland: unaufhörlichen, bitteren, unversöhnlichen Streit. Über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft des Zusammenlebens zwischen Protestanten, Katholiken und der wachsenden Gruppe der Nichtreligiösen. Über die Ursachen des Bürgerkriegs im vergangenen Jahrhundert und über dessen anhaltende Folgen. Schließlich sogar über die Frage, wie man jene Vereinbarung nennen soll, die dem schrecklichen, Jahrzehnte andauernden Blutvergießen vor 25 Jahren ein Ende bereitete.

Belfast im April 2023: Die Mauer steht noch, auch wenn sie eine Friedensbotschaft darstellen soll.
Foto: Liam McBurney/PA via AP

Handelt es sich nun um das Karfreitagsabkommen, wie alle Welt – einschließlich der katholisch-nationalistischen, auf die Republik im Süden hin orientierten Bevölkerung – sagt? Oder doch um den Belfast-Vertrag, worauf die königstreuen protestantischen Unionisten pochen?

Stürmische Stunden im April 1998

Monatelang hatten damals im Parlamentsgebäude von Stormont vor den Toren Belfasts die Delegationen der wichtigsten Parteien im britischen Teil Irlands unter Vorsitz des früheren US-Senators George Mitchell verhandelt. In der Karwoche spitzte sich die Situation zu: Die Premierminister Großbritanniens und Irlands, Tony Blair und Bertie Ahern, reisten nach Belfast; US-Präsident Bill Clinton redete den Unterhändlern telefonisch gut zu; die Abgesandten paramilitärischer Terrortruppen berieten sich mit ihren inhaftierten Spießgesellen. In den Morgenstunden des Karfreitags – es war der 10. April 1998 – war das fein gewebte Netzwerk von Garantien und Gesprächsforen, nicht zuletzt zur Bildung einer regionalen Allparteienregierung, endlich unterschriftsreif. Eiskalter Schneeregen gab den Ereignissen jenes Tages den dramatischen Rahmen.

In diesem Jahr 2023 fällt der Jahrestag auf den Ostermontag. Etwaige Gedenkfeiern treten schon deshalb in den Hintergrund, weil am Dienstag US-Präsident Joe Biden ankam. Die Sicherheitsbehörden befinden sich im Alarmzustand, aller Urlaub wurde gestrichen, der Geheimdienst spricht von der "hohen Wahrscheinlichkeit" eines versuchten Terrorangriffs.

Nicht nach Feiern zumute

Ohnehin ist den knapp zwei Millionen Nordiren nicht zum Feiern zumute. Die Unionisten haben im vergangenen Vierteljahrhundert ihre Bevölkerungsmehrheit verloren, von der Brexit-Regierung in London fühlen sie sich verraten und verkauft. Ihre Politiker liefern seit Jahren "eine Fallstudie von Totalversagen", wie Professor Anand Menon vom Londoner King’s College urteilt.

Nationalisten empfinden zwar stille Genugtuung darüber, dass Dublin und Brüssel in den langwierigen Brexit-Verhandlungen die Grenze zur Republik offengehalten haben. Vom wirtschaftlichen Sonderstatus Nordirlands aber können sie ebenso wenig profitieren wie die wachsende Mitte der Bevölkerung, weil die Belfaster Regionalregierung durch den Boykott der größten Unionistenpartei DUP wieder einmal brachliegt. "Das Land funktioniert nicht", konstatiert Geraldine Rea, eine Pensionistin in der zweitgrößten Stadt Derry.

Welch ein Kontrast zur Stimmung vor 25 Jahren! Durch beide Teile der Grünen Insel ging damals ein Seufzer der Erleichterung, in Referenden stimmte das Wahlvolk mit gewaltigen Mehrheiten der Einigung zu, die Irische Republik strich den territorialen Anspruch auf die sechs nördlichen Grafschaften aus ihrer Verfassung. Zwar gab es auch weiterhin Terroropfer zu beklagen, doch nahm die Zahl der Anschläge rapide ab.

Blutige Bilanz

Eine Opferkommission unter Leitung des früheren anglikanischen Erzbischofs Robin Eames listete später die schrecklichen Zahlen des Blutvergießens in den vorausgegangenen drei Jahrzehnten auf: 3.523 Tote, 47.000 Verletzte, 16.200 Bombenanschläge, von hunderttausenden traumatisierten Menschen ganz zu schweigen. "Unsere Gesellschaft wurde von der Gewalt schwer und dauerhaft geschädigt", fasste Eames den Befund seines Gremiums zusammen.

Die schmerzhaften Kompromisse des Karfreitagsabkommens sollten sicherstellen, dass die tödliche Alternative – "Bist du Brite oder Ire?" – nicht mehr das Leben der Bevölkerung bestimmte. Plötzlich galt es sogar als schick, sich zu beidem zu bekennen: zur politischen Treue zum Königreich ebenso wie zur geografischen Zugehörigkeit zur Grünen Insel.

Viele Branchen haben seither einen bescheidenen Aufschwung erlebt, zwischen 1998 und 2019 wuchs die nordirische Wirtschaft um 43 Prozent, unwesentlich geringer als das gesamte Königreich, wenn auch erheblich weniger als die Irische Republik. Der früher dominante öffentliche Sektor ist auf 27 Prozent aller Jobs zurückgegangen. Kleinere und größere Städte haben von der Friedensdividende profitiert. Im Stadtzentrum der Hauptstadt Belfast und im sogenannten Titanic-Viertel am Hafen, benannt nach dem dort gebauten Unglücksschiff, zeugen gläserne Bürohäuser von neuer Prosperität; das architektonisch reizvolle Titanic-Besucherzentrum zählte binnen eines Jahrzehnts mehr als sieben Millionen Besucher.

"Friedensmauern" als Attraktion

Zu Bürgerkriegszeiten war an Tourismus nicht zu denken. Längst ist das Blutvergießen zum Geschäft geworden, bieten kundige Taxifahrer Stadtrundfahrten der besonderen Art an, Gruseleffekt inklusive. Besichtigt werden neben schaurigen Wandgemälden und kleinen Mahnmalen auch die zynischerweise "Friedensmauern" genannten, bis zu acht Meter hohen Zäune, die bis heute manche Stadtviertel zerteilen, in eine protestantische und eine katholische Zone.

Sieben Jahre nach dem Brexit-Votum, das 56 Prozent der Nordiren ablehnten, gibt eine neue Vereinbarung zwischen London und Brüssel ("Windsor-Vertrag") Anlass zu Optimismus. Marktforscher Lucid Talk ermittelte kürzlich im Auftrag der Belfaster Queens-Universität: Zwei Drittel der Befragten äußerten Anerkennung für die Bemühungen beider Seiten, die bestehenden Probleme zu lösen. Immerhin 69 Prozent stimmen mit dem britischen Premier Rishi Sunak überein, der Nordirland als "spannendste Wirtschaftszone der Welt" anpries: mit der Sonderstellung im EU-Binnenmarkt bei gleichzeitigem Verbleib im Vereinigten Königreich.

Wenn nur die lokalen Politiker die Chance wahrnehmen würden! Stattdessen verharren die größte Nationalistenpartei Sinn Féin, einstiges Sprachrohr der Terrortruppe IRA, und die unionistische DUP seit Jahren im – immerhin nur verbalen – Schützengraben der Feindseligkeit. Ohne die beiden Großen kann die Belfaster Regierung überhaupt nicht funktionieren; ihre praktische Unabwählbarkeit macht sie aber auch zunehmend reformunfähig.

Desolate Versorgungslage

Schlimmstes Beispiel: Das britische Gesundheitssystem NHS kontrastierte lange Jahre höchst positiv mit der desolaten Versorgung in der Republik. Längst steckt es im gesamten Königreich in der Krise. Doch während in England gerade mal 0,016 Prozent der Patienten länger als zwei Jahre auf verschiebbare Eingriffe wie eine Operation am grauen Star oder das Einsetzen einer künstlichen Hüfte warten, beträgt der Anteil in Nordirland schockierende 37,7 Prozent.

Das Karfreitagsabkommen mag die Terrormorde beendet haben, urteilt das Magazin "Economist" eisig: "Aber schlechte Regierungen können auf ihre Weise ebenfalls tödlich sein."

Weil die Regionalregierung derzeit wieder einmal nicht besteht, hat Präsident Biden seine Rede vor dem Regionalparlament von Stormont abgesagt. Bei seinem einzigen Belfaster Auftritt eröffnet der Amerikaner mit irischen Wurzeln am Mittwoch einen neuen Uni-Campus; dort dürfte der Präsident den Betonköpfen beider Seiten einige mahnende Worte ins Stammbuch schreiben. Politischen Fortschritt aber erwarten Beobachter frühestens nach den Kommunalwahlen im Mai – und auch dies nur, wenn die Nordiren diesmal, anders als zuletzt, die Mitte stärken, anstatt die Extremparteien zu wählen. (Sebastian Borger, 10.4.2023)