Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel größer ausschaut, als er wirklich ist, hieß es bei Nestroy Mitte des 19. Jahrhunderts. Das ist auch die Botschaft einer vielbeachteten Studie, die Anfang dieses Jahres im Fachblatt "Nature" erschien, für die unmittelbare Gegenwart: Im 21. Jahrhundert habe es weniger fundamentale Durchbrüche in Forschung und Technologie als etwa noch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben.

Dennoch wird niemand bezweifeln, dass in den letzten beiden Dekaden zumindest die schiere Zahl der Fachartikel und Patente ungebremst weiterwuchs – mit einigen globalen Verschiebungen von West nach Ost: So überholte China 2018 die USA als Land mit den meisten und auch den meistzitierten wissenschaftlichen Publikationen. Laut einer neuen Analyse hat das Reich der Mitte auch bei 37 von 44 Schlüsseltechnologien die USA mittlerweile überflügelt.

Wie aber hat sich Österreichs Wissenschaft angesichts der globalen Entwicklungsdynamik in den vergangenen 20 Jahren geschlagen?

Zumindest der Zuwachs bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung war eindeutig positiv und stieg von 2,17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 3,26 Prozent und damit weit über den EU-Schnitt. Dieser Top-3-Platz bei den F&E-Ausgaben in der EU übersetzt sich allerdings (noch) nicht in Spitzenpositionen bei der wissenschaftlichen und technologischen Leistungskraft. In Sachen Innovation liegt Österreich nach wie vor nur im guten Mittelfeld (laut Europäischem Innovation Scoreboard Platz acht).

Und während das erste globale Uni-Ranking von Times Higher Education (THS) 2004 die Uni Wien als beste heimische Universität noch auf Platz 94 auswies, reichte es 2023 nur für Platz 124. Das ist immerhin deutlich besser als vor zehn Jahren, als nur Rang 170 herausschaute. Auch beim Innovation Score Board waren wir zwischenzeitlich schon einmal schlechter. Nur die auffällig schlechten Werte beim Eurobarometer sind seit 2010 gleich miserabel geblieben.

Nestroy und diesen Rankings zum Trotz ist auch in der nationalen, aber vor allem in der internationalen Forschung eine ganze Menge weitergegangen, wie die folgende unvollständige Liste wichtiger globaler und lokaler Meilensteine dokumentiert:


2003: Seit April 2003 gilt das menschliche Genom als vollständig entschlüsselt. In Wien kommt es zur Gründung des Instituts für Molekulare Biotechnologie (IMBA) unter der Leitung von Josef Penninger.

2004: Konstantin Novoselov und Andre Geim stellen erstmals Graphen her, zweidimensionale Kristalle aus Kohlenstoff, die eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten bieten; 2010 gibt es dafür den Physiknobelpreis. In Wien, Graz und Innsbruck werden die bisherigen Medizin-Fakultäten eigene Unis – für die immer wichtiger werdenden Uni-Rankings eine eher suboptimale Neuerung.

2005: Die Max F. Perutz Laboratories (heute: Max Perutz Labs) als Joint Venture von Med-Uni und Uni Wien werden eröffnet. Dort forscht für einige Jahre auch die spätere Nobelpreisträgerin Emmanuelle Charpentier.

2006: Offizielle Bestätigung, dass dem russischen Mathematiker Grigori Perelman die Lösung der Poincaré-Vermutung gelungen ist. Der Exzentriker sollte dafür die Fields-Medaille erhalten, lehnte diese aber ab. Dem japanischen Stammzellforscher Shin’ya Yamanaka gelingt die Rückprogrammierung von Hautzellen in Stammzellen, sogenannte iPS-Zellen, und begründete damit ein nach wie vor boomendes Forschungsfeld. 2012 erhält er dafür den Medizinnobelpreis.

2007: Gründung des IST Austria in Maria Gugging, das sich seitdem zu einer der führenden Forschungseinrichtungen Österreichs entwickelt hat. Im gleichen Jahr startet mit dem Europäischen Forschungsrat ERC eine Erfolgsgeschichte der kompetitiven Finanzierung von Grundlagenforschung.

Der CMS-Detektor des Large Hadron Collider, wo 2012 das Higgs-Boson entdeckt wird.
Foto: imago/Leemage

2008: Der weltgrößte Teilchenbeschleuniger LHC (Large Hadron Collider) am Cern bei Genf geht in Betrieb.

2010: Veröffentlichung des Neandertaler-Genoms und Entdeckung des Denisova-Menschen, einer bis dahin unbekannten neuen Menschenart, die erst durch die Sequenzierung der alten Erbsubstanz entdeckt wird. An beiden Durchbrüchen ist Svante Pääbo maßgeblich beteiligt, Begründer des aufstrebenden Felds der Paläogenetik und Medizinnobelpreisträger 2022.

2012: Am LHC wird das vom britischen Physiker Peter Higgs 1964 vorhergesagte und nach ihm benannte Teilchen entdeckt. Dafür gibt es für Higgs und seinen Kollegen François Englert 2013 den Physiknobelpreis.

Emmanuelle Charpentier (l.) und Jennifer Doudna, Chemienobelpreisträgerinnen 2020.
Foto: APA/AFP/JONATHAN NACKSTRAND

Teams um die späteren Chemienobelpreisträgerinnen Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna entdecken unabhängig voneinander das CRISPR/Cas9-System, das als mächtiges Werkzeug zur gezielten Genom-Editierung in verschiedenen Organismen und damit zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt werden kann.

2013: Ein Team um Jürgen Knoblich vom IMBA in Wien stellt erstmals "Minihirne" aus Stammzellen her. Diese Organoide helfen, Erkrankungen des Gehirns besser zu verstehen.

2016: Erster direkter Nachweis der von Einstein vorhergesagten Gravitationswellen, die in diesem Fall durch die Kollision zweier Löcher entstanden. Die Verantwortlichen für das Experiment Ligo, das diese Beobachtung liefert, erhalten 2017 den Physiknobelpreis.

2019: Erstes "Foto" eines Schwarzen Loches mithilfe der Radioaufnahmen des Event Horizon Telescope.

2020: Die erfolgreiche Entwicklung von mRNA-Impfstoffen zur Bekämpfung von Covid-19 rettet nicht nur Millionen Menschenleben, sondern bringt auch den Durchbruch bei der mRNA-Technologie, die zur Bekämpfung vieler anderer Krankheiten Einsatz finden wird.

Eine der von Alpha-Fold 2021 errechneten Proteinstrukturen.
Foto: EMBL-EBI/AFP/Getty Images

2021: Zwei Algorithmen namens Alpha-Fold 2 und Rosetta-Fold gelingt ein Durchbruch bei der Vorhersage der 3D-Struktur von Proteinen. Das eröffnet völlig neue Möglichkeiten für die biochemische Grundlagenforschung. Die künstliche Intelligenz hat damit auch die Biologie erobert.

2022: Das James-Webb-Teleskop erreicht im Jänner seine Umlaufbahn. Seit Juli liefert es faszinierende Bilder unseres Universums. Dem österreichischen Quantenphysiker Anton Zeilinger wird der Physiknobelpreis zugesprochen. Das ist der erste wissenschaftliche Nobelpreis seit fast 50 Jahren für einen in Österreich tätigen Forscher. (Klaus Taschwer, 10.4.2023)

Ein großer Schritt für die österreichische Wissenschaft: Anton Zeilinger erhält Ende 2022 den Physiknobelpreis.
Foto: ÖAW/Uni Wien/Hinterramskogler