Als Rudolf Scheuchl am 11. April 2017 zu Bett ging, war er zutiefst aufgewühlt. Stunden zuvor hatte sich der Oberösterreicher auf das Champions-League-Viertelfinale zwischen Borussia Dortmund und dem AS Monaco gefreut. Die Spiele des deutschen Fußballvereins sind für den Fan aus Bad Ischl Pflichtprogramm. Scheuchl trägt Schwarz-Gelb im Herzen. Das Match gegen die Monegassen aber musste verschoben werden. Auf den Mannschaftsbus der Borussia war auf dem Weg zum Signal-Iduna-Park ein Bombenanschlag verübt worden. Und während die Ermittler im Dunkeln tappten, riss es Scheuchl um zwei Uhr nachts aus dem Schlaf. In Sekundenbruchteilen hatte er aus 800 Kilometern Entfernung das Tatmotiv erkannt.

Dortmund-Fan Rudolf Scheuchl aus Bad Ischl führt ein Leben in Schwarz-Gelb. Die dramatischen Tage rund um den 11. April 2017 haben sich in sein Gedächtnis gebrannt.
Foto: Privat

"Ich ging zunächst von einem Trittbrettfahrer aus. Jemand, der von dem Anschlag gewusst haben muss. Wer soll für eine halbe Million Euro 29 Menschen töten wollen?"

Scheuchl hat seine erste Aktie mit 17 Jahren gekauft. Der Mann kennt das Geschäft wie kein Zweiter, in Sachen Börse macht man ihm nichts vor. Der 48-Jährige weiß, welche Papiere wann und wo gehandelt werden. Kurz vor dem Anschlag hatte Scheuchl den Kurs seiner Optionsscheine gecheckt. Business as usual sozusagen – wären da nicht diese ungewöhnlichen Käufe gewesen. Ein anonymer Trader hatte sich an der Börse Frankfurt gestückelt mit Put-Optionen in Bezug auf die Aktie von Borussia Dortmund eingedeckt. Übersetzung für Dummies: Wenn der Kurs der Borussia fällt, klingelt die Kassa. Zunächst dachte Scheuchl nicht groß darüber nach. Börse eben, ein verrücktes Geschäft. In Kombination mit einem Anschlag sieht die Sache aber anders aus.

"Um acht Uhr früh habe ich die Polizei in Dortmund angerufen. Ich habe versucht, Hochdeutsch zu sprechen. Die dachten wohl: Was erzählt der Ösi von der Börse?"

Während der Fahrt zum Stadion waren drei mit Metallstiften bestückte Sprengsätze am Straßenrand explodiert. Ein Polizist erlitt ein Knalltrauma. Verteidiger Marc Bartra wurde durch Splitter am Arm verletzt. Teamkollege Nuri Sahin sollte später von der Angst vor einem bewaffneten Überfall sprechen. Manche Spieler schrien dem Fahrer zu, er solle Gas geben. Andere schrien, er solle stehen bleiben. In den Minuten nach der Explosion herrschte Chaos. Am Anschlagsort stellte die Spurensicherung drei scheinbar islamistische Bekennerschreiben sicher. Gegen einen Iraker wurde ein Haftbefehl erlassen. Mit der Tat hatte er nichts zu tun. Während noch alle an den Terror des Islamischen Staates glauben, verfasst Scheuchl ein Posting im STANDARD.

"Diese Scheine wurden noch nie zuvor in Frankfurt gehandelt. Und dies mit einem niedrigen Basispreis und kurzer Laufzeit. Wahrscheinlich nur ein Zufall."

Als Scheuchl am 12. April um 10.21 Uhr diese Sätze schreibt, sind seit dem Anschlag 15 Stunden vergangen. Er glaubt nicht an Zufälle, mahnt sich aber zur Vorsicht. Was weiß man schon, es passieren die absurdesten Dinge. Also formuliert er seine Theorie mit Bedacht. Viele User reagieren auf die Angaben skeptisch, fordern eine Quellenangabe. Auch bei der Kriminalpolizei Dortmund wird die Spur zunächst nicht mit oberster Priorität behandelt. Habgier scheint den Beamten als Tatmotiv kaum vorstellbar, zu irrational. Zumal in einem angrenzenden Wald ein Nachtsichtgerät und verbrannte belgische Konservendosen gefunden wurden. Quasi ein Wegweiser zu einer Terrorzelle aus Brüssel. Plakativ. Zu plakativ, wie sich später herausstellen sollte.

"Ich habe die Geschichte Freunden und Bekannten erzählt. Ich wurde belächelt. ‚Du mit deinen Puts, Rudolf.‘ Jeder hat gemeint, ich hätte einen Vogel."

Derweil mehren sich in Dortmund die Zweifel an dem islamistischen Bekennerschreiben. Der Stil, die Wortwahl, die Forderungen. Es passt vorne und hinten nicht zusammen. Die Börsen-Theorie gerät mit einem Tag Verspätung ins Zentrum der Ermittlungen. Personalien werden abgeglichen, und siehe da, der Kauf der Optionsscheine war über einen Internetzugang im L’Arrivée, dem Mannschaftshotel der Borussia, abgewickelt worden. Der Verdächtige, Sergej W., hatte ein Zimmer mit Blick auf die Straße reserviert. So konnte der Deutsch-Russe den perfekten Zeitpunkt für die Zündung wahrnehmen. Das große Glück: Der 29-Jährige hatte die Sprengsätze schlecht platziert, die Detonation erfolgte über den Bus hinweg. Am 21. April wurde der Täter verhaftet.

"Der Verfassungsschutz hat mir später im Rahmen der Zeugenaussage bestätigt, dass es nur einen Hinweis in dieser Causa gab. Und der kam von mir."

Der Trailer zu "Der Anschlag – Angriff auf den BVB".
Sky Österreich

Am 27. November 2018 wurde der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren wegen versuchten Mordes in 29 Fällen, Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion und gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Die Verteidigung hatte auf eine Haftstrafe von deutlich unter zehn Jahren plädiert, die Staatsanwaltschaft wiederum lebenslängliche Haft gefordert. Sergej W. hatte die Tat in einem elfmonatigen Prozess zugegeben und frühzeitig die Beschaffenheit seines Sprengsatzes verraten. Dass der Angeklagte nicht zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, hatte er einem Teilgeständnis zu verdanken. Eine Tötungsabsicht hat Sergej W. stets bestritten.

"Ein bloßes Erschrecken des Teams hätte niemals genügt, um einen Gewinn an der Börse zu erzielen. Dazu hätte es, Gott behüte, Opfer benötigt."

Als die Mannschaft nach dem Anschlag weitgehend unversehrt aus dem Bus stieg, war das dramatische Ereignis für die Börse abgehakt. Der Plan von Sergej W. war nicht aufgegangen. Der Schock saß bei den Dortmunder Kickern trotzdem tief. Keine 24 Stunden nach dem Anschlag mussten sie gegen den AS Monaco spielen. Als wären Profis keine Menschen. Man dürfe sich dem Terrorismus nicht beugen, so der allgemeine Tenor. Man müsse dem Terror trotzen. Die Mannschaft wurde von der Politik instrumentalisiert. Sie trat an, wie es von ihr verlangt wurde. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Pflichtbewusstsein. Das Spiel ging verloren. Eine Woche später verabschiedete sich Dortmund in Monaco mit einer weiteren Niederlage aus der Champions League.

"Die Borussia hat mir fünf VIP-Karten für ein Spiel geschenkt. Wir sind nach Dortmund gepilgert, es war ein großes Erlebnis für die Familie."

So sah der ramponierte Mannschaftsbus der Borussia direkt nach dem Anschlag aus.
Foto: Sky

Wäre der Anschlag ohne den Hinweis aus Bad Ischl jemals aufgeklärt worden? Darüber kann man nur spekulieren. Scheuchl selbst hat Zweifel. Die Ermittlungen hätten jedenfalls länger gedauert. Und wer weiß, ob der Täter jemals hätte belangt werden können. Zum Zeitpunkt der Festnahme saß er auf gepackten Koffern Richtung Sankt Petersburg. Und Rudolf Scheuchl? Der ist auch sechs Jahre später ein glühender Anhänger seiner Borussia. Schwarz-gelbe Devotionalien schmücken sein Zuhause. Matchtag ist noch immer Feiertag. Es ist echte Liebe. (Philip Bauer, 10.4.2023)