Besonders an Europas Aktienmärkten geht es seit Monaten aufwärts, auch der jüngste Rücksetzer durch die Unsicherheit bei Banken wurde rasch wieder aufgeholt. Wie lange kann das so weiterlaufen?

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Man könnte meinen, Börsianer seien eine Spezies von einem anderen Stern. Der Gegenwind für irdische Volkswirtschaften scheint weiter zuzunehmen, zu den Problemen des Vorjahrs wie Kriegsbeginn, Energiekrise, Inflation und steigende Zinsen kommen heuer noch Tumulte im Bankensektor und Sorgen um die Immobilienmärkte – aber dennoch befinden sich die Aktienmärkte seit Monaten in einem Aufwärtstrend. Die zwischenzeitlichen Rücksetzer wegen bankrotter oder taumelnder Banken waren rasch wieder aufgeholt, in Europa nagen sogar wichtige Indizes bereits wieder an ihren Rekordständen. Wie passt das zusammen?

Das Phänomen, wenn sich Aktien besser zu entwickeln scheinen als die Realwirtschaft, wird an der Wall Street als "Wall of Worry" bezeichnet, also gewissermaßen als Mauer der Sorgen, an der die Kurse emporklettern. Oder anders ausgedrückt: Die Stimmung der Akteure ist deutlich schlechter als die Aussichten. Wenn die Aktienmärkte weiter zulegen, geraten die Pessimisten unter immer zunehmenden Druck, ihre Meinung zu ändern und bei Rücksetzern selbst noch auf den fahrenden Zug aufzuspringen, wodurch die Aufwärtsbewegung anhält. Dafür gibt es bei genauerer Betrachtung auch nachvollziehbare Gründe.

Mehr Umsatz und Gewinn

Im Grunde treibt die Inflation auch die Aktienkurse nach oben – obwohl sich die wirtschaftlichen Aussichten eintrüben. Allerdings wird das Wachstum real berechnet, also unter Abzug der derzeit sehr hohen Inflation. Nominal wird das Wachstum auch weiterhin sehr stark bleiben – und daraus speisen sich letztlich auch die Umsätze und Gewinne der börsennotierten Unternehmen. Denn dank der robusten Arbeitsmärkte ist der private Konsum stark genug, dass Firmen entlang der Wertschöpfungskette ihre Preise anheben können, wodurch auch die Gewinne steigen. Für die anstehende Berichtssaison zum ersten Quartal erwarten Experten zwar durchwachsene Ergebnisse, aber im Gesamtjahr sollten die Unternehmenserträge auch 2023 zulegen.

Dazu kommt, dass auch die Saisonalität zunächst noch für steigende Märkte sorgen sollte. Denn besonders rund um das Osterfest laufen die Aktienmärkte meist gut, beim deutschen Leitindex Dax ist der April mit einem Zuwachs von im historischen Mittel 2,75 Prozent sogar der erfolgreichste Börsenmonat überhaupt. Warum das so ist? Viele Unternehmen schütten in dieser Zeit Dividenden aus, worauf viele Investierende dieses Geld wieder in die Aktienmärkte reinvestieren.

Allerdings geht den Börsen dann in der warmen Jahreszeit oft die Luft vorübergehend aus – was auch heuer der Fall sein dürfte, wenn es nach dem bekannten Fondsmanager Jens Erhardt geht. "Ab Mai könnte es mit dann schlechteren Konjunkturnachrichten kippen", sagt er in einem Handelsblatt-Interview über die Aussichten. Bis dahin könne der Dax aber sein bisheriges Rekordhoch von 16.272 Punkten von Ende 2021 erreichen, aktuell fehlen darauf etwas mehr als vier Prozent.

Rechnung ohne Inflation

Investierende sollten sich davon allerdings keinen Sand in die Augen streuen lassen, denn in dieser Betrachtung fehlt die Inflation. Rechnet man den zwischenzeitlichen Kaufkraftverlust mit ein, sieht die Bilanz weit weniger freundlich aus: Dann fehlen dem deutschen Leitindex mehr als 14 Prozent auf das Rekordhoch. Anders gesagt: Die Börsen stehen unter Berücksichtigung der Inflation weit weniger gut da, als es auf den ersten Blick scheint. Es gibt also in weiterer Folge durchaus noch Luft nach oben.

Fondsmanager Erhardt von DJE Kapital erwartet, dass die Korrektur über den Sommer bis Oktober anhalten sollte – womit der Dax durchaus üblichen saisonalen Mustern folgen würde. Denn das Schlussquartal bringt historisch nach April die stärksten monatlichen Kurszuwächse. Chefökonom Ulrich Kater von der Deka Bank stimmt Anlegende darauf ein, dass "es wohl weiterhin ein Auf und Ab von Hoffnungen und Enttäuschungen" geben werde. Sein Fazit lautet: "Aber der mittelfristige Ausblick für die Aktienmärkte ist unbedingt positiv." (Alexander Hahn, 9.4.2023)