"Frühe Fremdbetreuung" kann die "normale Familie" bereichern, sagt die Psychotherapeutin Angelika Purkathofer in ihrem Gastkommentar. Und sie zeigt auf, dass das Ideal der Betreuung in der Kernfamilie relativ jung ist.

Frühe "Fremdbetreuung" schadet Kindern nicht. Wichtig sind positive Bezugspersonen, besagen Langzeitstudien.
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Ein kürzlich erschienener Artikel geht der Frage nach, was es mit kleinen Kindern macht, wenn sie "früh fremd" betreut werden, gemeint sind wohl Kinder unter drei Jahren in außerfamiliärer Betreuung. Das Ergebnis lautet, dass Stresshormone ansteigen, wenn Kinder in die Kinderkrippe kommen, ansonsten käme es auf den Betreuungsschlüssel an. Dabei wird von Gruppengrößen von 25 Kindern gesprochen – in Wien werden Kinder unter drei Jahren in Gruppen von 15 Kindern betreut. Die Sache ist jedoch vielschichtiger. Wie schädlich ist "frühe Fremdbetreuung" nun wirklich für kleine Kinder?

Der Übergang von der elterlichen 1:1-Betreuung in die Kinderkrippe geht sicherlich mit Stress einher. Das allein ist aber wenig spezifisch. Ist die Bezugsperson gestresst, überträgt sich das auf das Kind, umso mehr, wenn es die hauptsächliche oder einzige Bezugsperson ist. Da können weitere Bezugspersonen sogar entlastend wirken. Stresshormone steigen aber auch massiv an, wenn die familiäre Bezugsperson zwar anwesend, aber emotional für das Kleinkind nicht erreichbar ist – wer daran zweifelt, möge sich Videos zum Thema "still face experiment" ansehen.

"Heil(ig)e Familie"

Dennoch scheint nach wie vor in den deutschsprachigen Ländern die Vorstellung vorzuherrschen, dass kleine Kinder am besten in einer "normalen Familie" betreut werden und alles andere eine für das Kind immer schlechtere Kompromisslösung ist. Aber woher stammt diese Mär?

Wann hat denn diese "heil(ig)e Familie" je existiert? Oder wie war das mit den Arbeiterinnen und Bäuerinnen vor und zwischen den beiden Weltkriegen – stellen diejenigen, die auf der historisch verwurzelten "normalen Familie" beharren, sich deren Realität tatsächlich säuglingstillend zwischen Blümchentapeten und grießkochrührend vor? Sie mögen einen Blick auf die Fotos aus Archiven werfen und sich mit der Hinterhofrealität zwischen Ziegelfabrik und Bettgehertum konfrontieren oder die Urgroßmütter am Bauernhof nach ihrem Mutterschutz und ihrer Karenzzeit fragen.

Auch am anderen Ende des Spektrums hält die Illusion von der sorgenden Mutter einem Faktencheck nicht stand – adelige und großbürgerliche Mütter waren eher wenig für ihre Stillleidenschaft bekannt. Uneheliche Kinder, Alleinerziehende und Patchworkfamilien sind mitnichten eine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Das Ideal der Betreuung in der Kernfamilie ist also relativ jung und zeitlich wohl während der Zeit des Nationalsozialismus und danach einzuordnen.

"Eine sichere Bindung gilt als Resilienzfaktor."

Aber es sollte ja um das Kindeswohl gehen. Diesbezüglich mag noch ein anderer Blick in die Vergangenheit relativierend wirken. John Bowlby, einer der ersten Bindungsforscher, befasste sich schon in den 1960er-Jahren mit den Auswirkungen von frühen Trennungserfahrungen auf kleine Kinder. Dabei ging es hauptsächlich um mehrwöchige Heimaufenthalte, etwa während einer Krankheit der Mutter. Diese Trennungen wirkten tatsächlich verstörend, die verstörende Wirkung war aber bei ansonsten guter Bindung vorübergehend. Bowlby hat beschrieben, dass nicht die Quantität an Zeit ausschlaggebend dafür ist, dass jemand eine sichere Bindung zum Kind herstellen kann, sondern die Qualität. So waren manche Kinder an ihre Vollzeit arbeitenden Väter sicherer gebunden als an ihre Mutter, die den ganzen Tag zu Hause war. Und eine sichere Bindung gilt als Resilienzfaktor. Wie ist also für das Kind wichtiger als wie lange. Anwesenheit ist nicht gleichzusetzen mit Präsenz, und Präsenz muss nicht immer beglückend sein.

Positive Bezugsperson

Langzeitstudien zeigen, dass es Kindern selbst in desolaten familiären Verhältnissen gelingt, ein gutes Maß an Resilienz aufzubauen, wenn es zumindest eine Person gibt, die ihnen als positive Bezugsperson zur Verfügung steht. Das kann eine Lehrkraft ebenso sein wie eine Fußballtrainerin oder ein Fußballtrainer. Wenn aber eine einzige solche Bindungsperson, die für ein Kind bedeutend wird, ausreicht, um einem Kind eine zumindest halbwegs gesunde psychische Entwicklung zu ermöglichen, relativiert das die gefürchteten Auswirkungen von "früher Fremdbetreuung".

Zweifellos ist ein verbesserter Betreuungsschlüssel sinnvoll. Zweifellos sollte ein Tag in der Kinderkrippe mit 14 anderen Kindern als Arbeitstag für das Kind verstanden werden, wovon das Kind Pause und Erholung braucht wie Erwachsene, die acht Stunden arbeiten. Und zweifellos sollten die Kleinen in der Krippe auf feinfühlige Pädagoginnen und Pädagogen treffen, die sich als aufmerksame Bindungspersonen zur Verfügung stellen können. Ist das gegeben, kann die "frühe Fremdbetreuung" sogar die "normale Familie" bereichern. (Angelika Purkathofer, 8.4.2023)