In der Nacht auf Freitag traf die israelische Armee Ziele in der Hauptstadt des Gazastreifens.

Foto: AFP

Seit Tagen feuern palästinensische Terrorgruppen aus dem Gazastreifen Raketen auf den Süden Israels, am Donnerstag kam dann auch ein höchst seltener Angriff aus dem Süden Libanons hinzu. Am Freitag schockierte darüber hinaus ein Schussattentat im Westjordanland: Terroristen schossen mit Kalaschnikows auf ein Auto, das im Jordantal unterwegs war. Zwei israelische Siedlerinnen, Schwestern in ihren Zwanzigern, wurden bei Hamra getötet, ihre Mutter schwebt in Lebensgefahr. Israels Verteidigungsminister Joav Gallant hat nun höchste Sicherheitsvorkehrungen angeordnet. Steuert Israel auf einen neuen Krieg zu? DER STANDARD sammelt die zentralen Fragen und Antworten in einer unübersichtlichen Lage.

Frage: Nachdem aus dem Südlibanon 34 Raketen auf Israel abgefeuert worden waren, beschoss die israelische Armee in der Nacht auf Freitag drei Ziele im Süden Libanons. Experten sprechen von der schwersten Eskalation seit dem zweiten Libanonkrieg 2006. Droht nun ein neuer israelisch-libanesischer Krieg?

Antwort: Dass es einen Libanon-Krieg gibt, ist aus heutiger Sicht eher unwahrscheinlich: Israels Reaktion auf die Attacke war zumindest im Norden vergleichsweise begrenzt. Der Beschuss beschränkte sich im Gegensatz zu Gaza auf offenes Gebiet, es gab keine tödlichen Treffer oder Verletzte. Zudem beschränkte sich der israelische Beschuss auf palästinensische Ziele im Süden Libanons. Die israelische Armee geht davon aus, dass hinter dem außergewöhnlichen Angriff nicht die proiranische Hisbollah steht, die im Libanon das Sagen hat. "Das war palästinensisches Feuer", sagt ein Sprecher der Armee. Israels Vergeltungsschlag zielte auf palästinensische Flüchtlingslager im Libanon ab.

Dort leben knapp 200.000 Palästinenser in teils desolaten Zuständen, die Kriminalitätsrate ist hoch. Wie die Bewohner der Lager zu einer so hohen Anzahl an Raketen gekommen sind, ist unklar. Militärexperte Amos Yadlin tippt auf geschmuggelte Ware aus dem von der Hamas regierten Gazastreifen. Da es sich um Raketen mit geringer Reichweite handelte, könnten sie auch im Eigenbau angefertigt worden sein.

"Sehr wahrscheinlich steckt die Hamas dahinter", sagt ein Armeesprecher. Man gehe zwar davon aus, dass die Hisbollah davon wusste, sie trage aber nicht die Verantwortung für die Attacke. Israels Strategie wird sich daher wohl auf eine nachhaltige Schwächung der Hamas konzentrieren, nicht auf die vom Iran gesteuerte Hisbollah. An einer Eskalation mit dem Libanon haben weder Israel noch der Iran Interesse.

Frage: Hamas und palästinensische Terrorgruppen bezeichnen den aktuellen Terror als "natürliche Reaktion" auf die Gewalt in der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem. Was hat der Libanon mit Jerusalem zu tun?

Antwort: Die ungewöhnliche Attacke aus dem Norden hat ihre Wurzel zweifellos in den Vorgängen in Jerusalem: Zwei Nächte in Folge war die Al-Aqsa-Moschee in der Altstadt Jerusalem Ort von teils schwerer Gewalt. Palästinenser hatten sich dort über Nacht verschanzt, um die Moschee zu "verteidigen" – die Hamas hatte zuvor dazu aufgerufen.

Israelische Polizisten bekamen den Auftrag, in die Moschee einzudringen. Die Bilder von prügelnden Polizisten wurden massenhaft auf allen Kanälen geteilt. Hashtags wie "Al-Aqsa wird angegriffen" und "Hände weg von Al-Aqsa" liegen im Trend. Seit zwei Jahren spielt sich die Hamas als militärischer Schutzherr des drittwichtigsten islamischen Heiligtums auf: Jeder tatsächliche oder vermeintliche Gewaltakt israelischer Sicherheitskräfte wird zum Vorwand für Waffengewalt genommen. Zugleich zeigten sich auch in Israel Menschenrechtsorganisationen schockiert über die Gewalt der Polizisten.

Frage: Warum drangen israelische Polizisten in die Moschee ein?

Antwort: In den letzten zehn Tagen des Ramadan ist es üblich, dass Palästinenser in der Moschee übernachten. Jüdische Pilger dürfen in dieser Zeit den Tempelberg nicht betreten. Die gewaltsamen Vorfälle in der Moschee ereigneten sich aber noch vor dem letzten Ramadan-Drittel. Israels Polizei befürchtete, dass jüdische Pilger tags darauf zu Schaden kommen könnten. Die Polizeikräfte hatten daher den Auftrag, die Moschee zu räumen.

Die Palästinenser in der Moschee empfingen die Polizisten mit Feuerwerken und Steinwürfen. Die Lage eskalierte, es gab viele teils schwer Verletzte. Ein Vertreter der israelischen Armee sprach von einer "schlechten Optik".

Für Terrorgruppen wie die Hamas, die auf sozialen Medien eine massive Hetzkampagne gegen Israel betreiben, waren die Bilder von prügelnden Polizisten und Palästinensern mit Kopfverletzungen jedenfalls willkommene Munition.

Frage: Seit drei Monaten steckt Israel in einer schweren innenpolitischen Krise. Die Massenproteste haben auch Teile der Armee erfasst. Ist Israel in seiner Abwehr geschwächt?

Antwort: Die Moral der Streitkräfte ist angeschlagen. Die Armee ist auf die Bereitschaft seiner Reservisten angewiesen. Viele von ihnen haben sich aber den Antiregierungsprotesten angeschlossen – darunter auch Eliteeinheiten und Piloten der Luftwaffe. Einigermaßen absurd ist auch die Lage, in der sich Verteidigungsminister Joav Gallant und sein Ministerium befinden: Netanjahu hatte Gallant vor knapp zwei Wochen gefeuert und keinen Nachfolger bestellt. Da die Kündigung nicht schriftlich übermittelt wurde, trat sie nicht in Kraft. Gallant ist also weiterhin im Amt und muss nun gemeinsam mit Netanjahu und dem Generalstabschef der Armee Entscheidungen für Israels Sicherheit treffen. Vieles spricht übrigens dafür, dass Gallant von einer drohenden Attacke aus dem Libanon gewusst und Netanjahu davor gewarnt hatte. Wenig später verlor er seinen Job – oder eben auch nicht. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 7.4.2023)