Schach ist ein relativ kompliziertes Spiel. Das beweist sich in der ersten Partie dieser 49. Schachweltmeisterschaft bereits im 7. Zug, als der mit Weiß spielende Jan Nepomnjaschtschi seinen Königsturm nach e1 zieht. Er tut das in einer Spanischen Partie, einer Eröffnung, die ein Priester namens Ruy Lopez im 16. Jahrhundert ersann und die seit Ewigkeiten zu den beliebtesten Partieanfängen zählt. Und doch ist Nepos natürlich anmutender Zug an dieser Stelle, in dieser konkreten Position so selten, dass sein Gegner Ding Liren als Reaktion darauf in tiefes Nachdenken versinkt.

Rückzug mit Kapuze

Es ist ein gutes Zeichen für das klassische Schach im Allgemeinen und das laufende WM-Match im Besonderen, dass es selbst auf scheinbar lückenlos kartografiertem Eröffnungsterrain immer noch möglich ist, früh kleine Überraschungen zu bringen. Nicht unbedingt ein gutes Zeichen, zumindest für Ding-Liren-Fans, ist dagegen die Reaktion des Chinesen auf diese Überraschung: Denn Ding zieht sich bald immer länger in seinen Ruheraum zurück und starrt dort auf den Monitor, der die aktuelle Partiestellung anzeigt.

Ans Brett kommt die Nummer drei der Welt bald nur noch, um die im stillen Kämmerlein ausbaldowerten Züge schnell aufs Brett zu werfen, bevor sie sich wieder in ihrer mit Erfrischungen bestückten Höhle verkriecht. Dann legt Ding dort auch noch eine dicke weiße Kapuzenjacke an – als würde er neben den Wänden des Ruheraums eine weitere schützende Schicht zwischen sich und die Außenwelt schieben wollen.

Das Setting zur WM in Astana.
Foto: IMAGO/Grigory Sysoev

All das verstößt gegen keinerlei Regeln, erinnert den Beobachter aber frappant an das Verhalten von Dings aktuellem Gegner bei der letzten WM. 2021 in Dubai gegen Magnus Carlsen war es Nepo, der zeitweise ganze Partien vom Ruheraum aus spielte – und letztlich chancenlos mit 7,5:3,5 unterging. Später gestand der Russe, dass er während des Matches sehr schlecht geschlafen und sich unwohl gefühlt habe. Sollte es Ding Liren in Astana ähnlich ergehen? Während dieser ersten Partie wirkt der chinesische Großmeister bei seinem WM-Debut jedenfalls fahrig, nervös, nicht ganz da.

Nepo drückt

Und das schlägt sich bald in seiner Stellung nieder. Aus der Eröffnung nimmt Nepomnjaschtschi ein kleines, aber stabiles positionelles Plus mit: Am Königsflügel verfügt der Weiße über eine bewegliche Bauernmehrheit, während die schwarze Mehrheit am Damenflügel durch einen Doppelbauern auf der c-Linie entwertet ist. Im Moment ist das noch egal, im Endspiel kann es aber für einen weißen Sieg reichen – wenn Nepomnjaschtschi es schafft, die richtigen Figuren abzutauschen und einen Freibauern zu bilden. Das Läuferpaar, in dem Dings Kompensation für die schlechtere Bauernstruktur bestand, hat Nepo ihm im 15. Zug schon einmal erfolgreich abgeluchst. Ab da ist die Partie ein Spiel auf ein Tor, das chinesische nämlich – auch wenn es vorerst ausreichend geschützt scheint.

In Top-Form gilt Ding Liren als einer der am schwersten zu schlagenden Spieler überhaupt. 2017/2018 blieb der Chinese unglaubliche hundert Turnier-Partien lang ungeschlagen. Ein Ding Liren auf der Höhe seiner Fähigkeiten sollte mithin keine Schwierigkeiten haben, diese nur leicht nachteilige Stellung zu halten. Aber an diesem Ostersonntag tut Ding Dinge, die man als Verteidiger lieber unterlassen sollte.

Bauernfrühstück

Bereits mit 21…a5 stellt der Schwarze seinen Randbauern ohne Not auf ein Feld, auf dem dieser später anfällig werden wird. Während das bei korrekter Fortsetzung noch angehen mag, ist es spätestens 25…c6?, womit sich der Chinese in gravierende Schwierigkeiten bringt: Die schwarzen Felder am Damenflügel wirken plötzlich schwach. Nepomnjaschtschi fackelt nicht lange, tauscht die Türme und schickt seine Dame im Verein mit dem schwarzfeldrigen Läufer auf eine kulinarische Expedition ins Hinterland des Nachziehenden, wo sie sich bald aussuchen wird können, welchen chinesischen Bauern sie als erstes frühstückt.

Jan Nepomnjaschtschi entspannt.
Foto: APA/AFP

Nach 28 Zügen sieht das alles überhaupt nicht gut für Ding Liren aus. Die Stellung des WM-Debütanten ist grenzwertig, und auch die Bedenkzeit droht ihm knapp zu werden. Letzteres zwingt Ding, seine Züge doch wieder am Brett zu ersinnen, weil das ständige Hin und Her zwischen Tisch und Ruheraum zu viel Zeit kostet.

Qual der Wahl

Aber gerade als viele bereits auf den ersten WM-Partiegewinn für Jan Nepomnjaschtschi wetten würden, passiert etwas Merkwürdiges. Nepo kann sich nicht entscheiden. Er hat zwei Möglichkeiten, ein klar besseres Endspiel herbeizuführen und wählt – keine von beiden. Stattdessen schlägt der Russe den Bauerngewinn aus, belässt die Damen am Brett und schickt seine Reiterei in Richtung des schwarzen Monarchen. Will Nepomnjaschtschi seinen Gegner in dessen Zeitnot mit einem Königsangriff überrumpeln?

Ding Liren grübelt.
Foto: IMAGO/Grigory Sysoev

Fast sieht es so aus, aber der Plan erweist sich als unumsetzbar. Trotz wachsender Zeitnot findet Ding ein paar präzise Defensivzüge, zwingt Nepo zum Damentausch, in den dieser nun unter sehr viel weniger günstigen Bedingungen als zuvor einwilligen muss. Als der Schwarze mit seinem 40. Zug und nur noch 30 Sekunden Restbedenkzeit auf der Uhr die Zeitkontrolle erreicht, ist klar: Nepomnjaschtschi hat seine Chance verspielt, das Endspiel ist ausgeglichen, die erste Partie wird mit Remis enden.

Und das tut sie dann auch: Nach 49 Zügen werden Hände geschüttelt und Partieformulare unterschrieben, es steht 0,5:0,5.

Beide Spieler können mit dem Verlauf dieser ersten Begegnung nicht zufrieden sein: Ding hat unter seinem üblichen Niveau agiert, Nepomnjaschtschi die sich ihm bietende Chance nicht genützt. Bereits am Ostermontag ab 11 Uhr MEZ müssen die Kontrahenten in Partie zwei mit vertauschten Farben beweisen, dass sie es besser können. (Anatol Vitouch, 9.4.2023)