Zuerst hatte alles nach einem eher kleinen Leak ausgesehen. Mittlerweile aber fürchten viele in den USA das schlimmste Datenleck seit Edward Snowdens NSA-Enthüllungen. Über hundert Zettel mit US-Geheimdiensterkenntnissen sind im Netz aufgetaucht. Sie könnten nicht nur Russland im Krieg gegen die Ukraine helfen, sondern auch künftige Geheimdienstarbeit erschweren. Letzte Zweifel an der Echtheit aber bleiben.

Frage: Worum geht es genau?

Antwort: Bei den Leaks geht es um über hundert abfotografierte Zettel, in etwa im A4- oder Letter-Format. Sie tragen Datumsangaben vom Februar und März – und bieten ein buntes Potpourri aus amerikanischen Geheimdiensterkenntnissen. In vielen Fällen geht es um die Ukraine. Aber auch Briefing-Informationen zu anderen Staaten sind auf den Papieren nachzulesen. Dabei geht es um Spionage der USA, auch unter Verbündeten, und um militärische und politische Lageeinschätzungen zu einer ganzen Reihe von Staaten und Krisenherden (siehe unten).

Frage: Wie geheim ist das alles?

Antwort: Zum Teil handelt es sich um durchaus höhere Geheimhaltungsstufen. Einige der Papiere sind als "Top Secret" eingestuft, also der formell höchsten Stufe in den USA. Weitere Markierungen verengen den Kreis jener, die eigentlich dazu Zugang haben sollten, noch weiter. Mehrere Papiere tragen den Eintrag "NOFORN" (No Foreigners), sind also nur für US-Augen.

Collage: DER STANDARD

Andere sind Ergebnis von "compartmentalized intelligence" – also Wissen, das nur Mitarbeitenden einer bestimmten Geheimdienstsparte zur Verfügung steht. Damit soll vermieden werden, dass Menschen aus anderen Sparten ihre eigenen Ergebnisse mit diesen Erkenntnissen zusammenführen können. Nur eine kleine Zahl an Menschen soll das volle Bild haben. Fachleute glauben, dass ein paar Tausend Regierungsmitarbeiter und private Auftragnehmer Zugang hatten.

Frage: Wieso ist das alles so problematisch?

Antwort: Die Informationen geben recht detaillierte Hinweise darauf, welche Waffen die Ukraine wann erhalten wird, und auch, in welchen Bataillonen diese eingesetzt werden sollen. Außerdem zeigen sie Schwächen in der Kiewer Verteidigung, die Russland ausnutzen kann. Vor allem aber bergen die Enthüllungen das Potenzial, dass die USA von ihren bisherigen Erkenntnissen abgeschnitten werden.

Im Pentagon herrscht dem Vernehmen nach Alarmstufe Rot.
Foto: AP

Ein paar Zettel geben Hinweise darauf, dass Erkenntnisse von "HUMINT" stammen – "Human Intelligence", menschlichen Geheimdienstquellen. Dazu kommen viele Hinweise auf "SIGINT" – "Signals Intelligence", also Ergebnisse von Abhörmaßnahmen. In beiden Fällen gilt: Abgehörten wird schnell klar werden, welche Konversationen genau abgehört wurden und wer ihren Inhalt kannte. Spione könnten also enttarnt werden, abgehörte Kommunikationswege künftig geschlossen.

Frage: Wie wurden sie gefunden?

Antwort: Erstmals bekannt wurden die Daten am Freitag durch einen Bericht der New York Times. Ihren Reportern waren rund zehn der Zettel in prorussischen Telegram-Gruppen aufgefallen, die aber an entscheidenden Stellen manipuliert waren. Wenig später aber tauchten weitere Zettel auf, die diese offensichtlichen Manipulationen nicht trugen, also vermutlich das Ausgangsmaterial waren. Reporter von Bellingcat gingen dem Ursprung nach und stießen auf die einst als Chat für Computerspieler eingerichtete Plattform Discord. Dort fanden sie Dutzende weitere Papiere. Sie sollen seit Jänner dort sporadisch gepostet worden sein. Von wem, ist unklar – US-Geheimdienste haben mehrere Hypothesen. Bewusste Sabotage ist möglich – aber auch Prahlerei unter den Chat-Mitgliedern.

Frage: Sind sie echt?

Antwort: Öffentlich ist in den USA immer noch von russischen Fälschungen die Rede. Unter Berufung auf anonyme Quellen aber gehen US-Medien davon aus, dass die Papiere echt sind. Dafür spricht auch, dass neben den von Russland manipulierten Zetteln im Netz offenkundig unveränderte Papiere zu finden sind – wenn Moskau die Papiere bewusst fälschen ließ, wieso würden man dann zwei Versionen herstellen? Bleibt eine Möglichkeit die russische Militärblogger ansprechen: Eine massive Täuschungsmission der USA, mit der Russland in die Falle gelockt werden soll. Greift Moskau etwa nun im Glauben an Engpässe bei der ukrainischen Luftabwehr an, läuft das Land Gefahr, viele Flugzeuge zu verlieren, wenn die Abwehr doch noch funktioniert. Es wäre aber eine sehr aufwendige Fälschung, und auch der Discord-Chat mit rund 20 Mitgliedern – wäre ein schlechter Ort, um sicherzustellen, dass Moskau sie findet. (Manuel Escher, 10.4.2023)