Astana – Ein kleiner Bauernzug kann in eine andere Welt entführen. Das beweist Ding Liren in seiner ersten Weißpartie dieser WM schon mit seinem vierten Zug. Da schiebt der Chinese nämlich in einer hunderttausendfach gespielten Stellung des abgelehnten Damengambits seinen Randbauern am Königsflügel einen Schritt weit vor: 4. h3!?

Es ist ein harmloser, ein langsamer Zug; ein Zug, von dem jeder fortgeschrittene Schachspieler sofort wird sagen können, dass es unmöglich der beste in dieser Stellung sein kann. Tatsächlich verstößt Dings 4.h3 gleich gegen eine Reihe von Prinzipien, die jeder Anfänger des Spiels eingebläut bekommt: Konzentrier dich in der Eröffnung aufs Zentrum, entwickle rasch deine Figuren, mach Bauernzüge nur, wenn sie Raum greifen oder bei der Entwicklung helfen – nichts davon leistet 4. h3.

Selber denken

Und doch sind die im Internet kommentierenden Experten, wie der niederländische Weltklasse-Großmeister Anish Giri, begeistert von Dings früher Kakophonie. Denn wie Giri im Livestream der Plattform chess.com dem Publikum erläutert, zwingt 4.h3 Jan Nepomnjaschtschi, schon im vierten Zug mit seinem eigenen Kopf zu denken. Durch die Verzögerung des natürlichen Springerzuges nach c3 kann Nepo nun in keine der von ihm gegen das Damengambit mit Vorliebe gespielten Varianten – wie die Ragozin-Verteidigung oder die Tarrasch-Variante mit frühem cxd4 – überleiten. Ein Abzweigen ins Angenommene Damengambit wäre eindeutig die prinzipiellste Fortsetzung, weil die Stellung damit geöffnet und der mit 4.h3 verbundene Tempoverlust ausgenutzt wird.

Ding Liren und Jan Nepomnjaschtschi mehr oder weniger fokussiert bei der Kopfarbeit.
Foto: EPA/RADMIR FAHRUTDINOV

Nur: Nepomnjaschtschi hat das Angenommene Damengambit nicht im Repertoire. Soll er es trotzdem spielen, wissend, dass er durch den langsamen weißen Aufbau eine gute Stellung erhalten, sich zugleich aber genau auf das von Ding vorbereitete Terrain begeben wird?

Rapport flüstert

Während sein Gegner wie schon in Partie eins nach jedem Zug in seinem Ruheraum chillt, windet Jan Nepomnjaschtschi sich auf seinem Sessel. Der Russe stützt den Kopf in die Hände, schneidet Gesichter, steht auf, um sein Sakko auszuziehen, setzt sich wieder. In der Zwischenzeit wird in der kiebitzenden Schachwelt tausendfach der Name Richárd Rapport genannt: Der ungarische Großmeister, so hat Ding Liren am Vortag überraschend eingeräumt, sekundiert dem Chinesen bei dieser WM. Rapport gilt als einer der kreativsten aber auch eigenwilligsten Spieler der Szene. Es gibt kaum eine Verrücktheit, die er selber noch nicht in einer Turnierpartie aufs Brett gestellt hat, und so sind sich alle einig: 4.h3!? muss dem sonst so soliden Ding von seinem neuen Sekundanten eingeflüstert worden sein. Außerdem, so verriet der Chinese, hört er mit Rapport gerne 80er-Jahre-Pop und betreibt englischsprachiges Konversationstraining.

Warten auf Ding Liren.
Foto: EPA/RADMIR FAHRUTDINOV

Jan Nepomnjaschtschi hat einstweilen andere Sorgen. Nach zehn Minuten Nachdenken nimmt er die chinesisch-ungarische Herausforderung mit grantigem Gesichtsausdruck an, indem er sich des weißen Gambitbauern auf c4 erbarmt: 4…dxc4. Ein paar Züge später sieht Nepo immer noch recht unglücklich aus, und Ding erscheint weiterhin nur am Brett, um rasch seine Züge auszuführen. Da Nepomnjaschtschi offenbar keine Lust hat, ständig allein in der Auslage zu sitzen, ergibt sich bald ein merkwürdiges Bild: Der Spieltisch ist die meiste Zeit über verwaist, nur die über die Sessel gehängten Jacketts erinnern daran, dass hier gerade eine WM-Partie läuft, während sich die Spieler in ihren Ruheräumen verschanzen.

Schön Scharf

Mit 12. Sxf6+ entscheidet sich Ding Liren dann nach halbstündigem Nachdenken in seiner Klause etwas überraschend dafür, volles Risiko zu nehmen und die g-Linie mit Blick auf seinen kurz rochierten König zu öffnen. Nepo lässt sich nicht lange bitten und rochiert im Gegenzug lang. Die entstandene Stellung erinnert an scharfe Abspiele aus der Slawischen Verteidigung, ist konkret aber absolut neu. Und bald zeigt sich, dass sie sich für den Schwarzen erheblich leichter spielt. Während Ding grobe Schwierigkeiten hat, sein Figurenknäuel am Damenflügel zu entwirren, schickt sich Nepomnjaschtschi mit 18…f5! an, das weiße Vollzentrum zu sprengen und seinem weißfeldrigen Läufer die Sicht in Richtung weißer Königsflügel zu öffnen.

Ding verbraucht mehr und mehr Zeit, verlässt nun auch immer öfter seinen Ruheraum, um am Brett die Hände in den Kopf zu stützen. Aber er findet keine Lösung mehr für die sich rasch türmenden taktischen Probleme. Es ist eine Stellung, wie Jan Nepomnjaschtschi sie liebt: Mit dem Qualitätsopfer 20…Txg5! Und 21…Sxd4 zerschlägt er die weiße Stellung schwungvoll. Zwar gelingt es Ding unter Aufbietung seiner Restbedenkzeit, nicht sofort matt zu werden. Dafür aber löst sich sein Zentrum auf, und ein mächtiges schwarzes Läuferpaar unterstützt den c-Freibauern entscheidend bei seinem Weg zum Touchdown auf der Grundreihe.

Heftige Abfuhr

Mit nur noch Sekunden auf der Uhr hat Ding Liren nach 29 Zügen genug gesehen, gibt auf und verlässt eilig den Ort der Schmach. Es ist eine krachende Weiß-Niederlage, die für die WM-Chancen des Chinesen absolut nichts Gutes verheißt.

Nepomnjaschtschi allein am Brett.
Foto: EPA/RADMIR FAHRUTDINOV

Für Jan Nepomnjaschtschi, der in Astana ungleich lockerer und zugleich fokussierter als bei seiner ersten WM 2021 in Dubai wirkt, ist dieser Schwarzsieg dagegen Gold wert: Nicht nur hat er die Vorbereitung seines Gegners de facto am Brett widerlegt. Es ist auch der erste WM-Partiegewinn für den Russen nach vier schmerzhaften Niederlagen gegen Magnus Carlsen. Und was für einer.

Nach dem ersten Ruhetag führt Nepomnjaschtschi in Partie drei am Mittwoch wieder die weißen Steine. Dann wird sich weisen, ob Ding Liren sofort ein weiteres Eröffnungsexperiment à la Rapport aufs Brett zaubert oder nach der Niederlage erst einmal versucht, Ruhe in sein Spiel zu bringen. Angesichts der heftigen Abfuhr, die Ding in Partie zwei erhalten hat, möchte man ihm als neutraler Beobachter zu Zweiterem raten. (Anatol Vitouch, 10.4.2023)