Eine der Lieblingspointen des früheren EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker zu China ging so: Als er noch Premierminister in Luxemburg war, reiste er nach Peking. Mit Pomp empfangen, flüsterte er seinem Amtskollegen ins Ohr: "Wir beide stehen für eine Milliarde fünfhunderttausend Menschen, sind gemeinsam eine Weltmacht!" Das Eis war gebrochen, der chinesische Premier sehr amüsiert.

Der chinesische Präsident Xi Jinping rückte in Sachen Ukraine keinen Millimeter von der Unterstützung für Wladimir Putin ab.
Foto: IMAGO/Xinhua/Xie Huanchi

Luxemburg hatte damals knapp eine halbe Million Einwohner, China den Weg des rasanten wirtschaftlichen Aufstiegs, der 800 Millionen Menschen aus Armut befreite, gerade erst angetreten.

Zwanzig Jahre später sieht die Welt völlig anders aus. Und die China-Reise des französischen Präsidenten Emmanuel Macron parallel zu EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigte auf bemerkenswerte Weise, was Europa seither alles versäumt hat.

Zweitgrößte Wirtschaftsmacht

Auf dem Alten Kontinent tobt ein großer Krieg Russlands gegen die Ukraine. Die Europäische Union, die sich bei Klimaschutz, Demokratie und Grundrechten gerne global führend sieht, ist dabei machtlos, verliert an Bedeutung: politisch, wirtschaftlich, demografisch, militärisch ohnehin. In Afrika, in Lateinamerika, in Asien müssen die Europäer um den Erhalt ihrer Positionen bangen.

China ist neben den USA inzwischen zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt herangewachsen, vor der EU. Und nicht nur in den amerikanisch-chinesischen Beziehungen gibt es wenig zu lachen. Stichwort: militärische Bedrohung Taiwans durch Peking. Die Folgen all der Krisen treffen die EU-Staaten am meisten, mit tristen Aussichten. Die beiden Weltmächte heute und in Zukunft heißen USA und China. Russland und die EU mit Frankreich werden daneben trotz Atommachtstatus nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Und die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten? Sie werden nur bestehen können, wenn es ihnen gelingt, als Union in der Welt geeint aufzutreten. Einzeln werden sie Winzlinge sein, politisch, wirtschaftlich, militärisch. Umso erstaunlicher ist, wie Macron seinen Trip resümierte.

Europa verliert

Der chinesische Präsident Xi Jinping rückte in Sachen Ukraine keinen Millimeter von der Unterstützung für Wladimir Putin ab. Schlimmer noch: Kaum waren die Europäer weg, bedrohte Peking mit neuen Militärmanövern Taiwan. Das hinderte Macron nicht daran, von der EU als "dritter Weltmacht" zu schwadronieren. Noch fataler, ging er auf Distanz zu Taiwan, dem wichtigsten Halbleiterexporteur der Welt, indem er erklärte, die Europäer dürften sich von den USA nicht in einen Konflikt mit China hineinziehen lassen.

So spricht man nicht über einen transatlantischen Nato-Partner, ohne dessen Militärhilfe die Ukraine längst verloren wäre. Schon klar, der Präsident war getrieben von nationalen französischen Wirtschaftsinteressen. Fünf Dutzend Manager reisten mit ihm in der Präsidentenmaschine. So ähnlich machte es ihm der deutsche Kanzler Olaf Scholz im November vor. Berlin und Paris pfeifen auf eine gemeinsame China-Politik der EU, verfolgen ihre nationalen Ziele.

Von der Leyen musste per Linienflug anreisen, das Gastland über den Touristenterminal betreten. Das ist an Symbolkraft kaum zu überbieten: Europa verliert. Immerhin sorgte die Kommissionschefin für eine gewisse Ehrenrettung, indem sie Menschenrechtsverletzungen und Pekings Rolle in Russland kritisch ansprach. Besser als nichts. (Thomas Mayer, 10.4.2023)