Die Frau, die im Moskauer Außenministerium ans Rednerpult tritt, sieht so gar nicht wie eine mit internationalem Haftbefehl gesuchte Kriegsverbrecherin aus: Sie wirkt charmant, offen, selbstbewusst. Maria Lwowa-Belowa, die russische Kinderrechtsbeauftragte, berichtet auf der Pressekonferenz davon, dass Russland seit Beginn der "Spezialoperation" rund 730.000 Kinder aus dem Osten der Ukraine aufgenommen habe. Kiew spricht hingegen von rund 20.000 "verschleppten" Kindern. Unterschiedlicher könnten die Narrative nicht sein.

Als Maria Lwowa-Belowa vor wenigen Tagen bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats via Videokonferenzschaltung sprach, verließen Vertreter der USA und Großbritanniens das Treffen.
Foto: REUTERS/Michelle Nichols

Es ist eine Frage der Perspektive. Aus Kiewer Sicht seien diese Kinder aus besetzten Gebieten nach Russland entführt worden und würden dort russisch indoktriniert. Dies sei ein Genozid, ein Kriegsverbrechen.

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DER STANDARD

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beklagt, die Kinder würden ihrer ukrainischen Identität beraubt und zwangsweise russifiziert. Lwowa-Belowa weist dies als "Lüge" zurück und fordert Beweise.

Der Westen hat sich der ukrainischen Perspektive angeschlossen: Der Internationale Strafgerichtshof, den weder Russland noch die USA anerkennen, erließ einen Haftbefehl nicht nur gegen Russlands Präsident Wladimir Putin, sondern auch gegen Lwowa-Belowa. Als diese vor wenigen Tagen bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats dennoch via Videokonferenzschaltung sprach, verließen Vertreter der USA und Großbritanniens das Treffen.

Drei Sichtweisen

Die zweite, die andere Perspektive ist die russische: Die besetzten Gebiete seien in der Zwischenzeit russisches Staatsgebiet. Und Lwowa-Belowa mache nur ihren Job, für den sie zuständig sei: Sie kümmere sich um Kinder, die in Gefahr seien. Die russische Kinderbeauftragte spricht von "Evakuierung".

Und es gibt eine dritte Perspektive – die vielleicht wichtigste: jene der Kinder selbst, die mitten im Kampfgebiet in Waisenhäusern leben oder deren Eltern während der Kämpfe starben. Täglich Bomben und Granaten, Eroberung durch russische Truppen, Rückeroberung durch die Ukrainer, täglich Lebensgefahr. Diese Kinder würden in Russland in Sicherheit gebracht und betreut, wenn es keine Eltern oder Verwandte gebe, so Lwowa-Belowa.

Seit einer Gesetzesänderung vom Mai 2022 können die Behörden diesen Kindern die russische Staatsbürgerschaft verleihen, was eine Adoption erleichtert. Sollten sie aber in der Ukraine doch noch Eltern oder Verwandte haben, hätten diese – wenn sie ihre Kinder vermissen – mit einer Suchanzeige die Möglichkeit, sich an die russische Kinderbeauftragte zu wenden.

Glückliches Ende einer dramatischen Episode: Eine ukrainische Mutter kann mit ihrem 14-jährigen Sohn in die Heimat zurückkehren, nachdem er in russische Obhut genommen worden war.
Foto: Reuters / Valentyn Ogirenko

"Keine Umerziehung"

Bei einer Pressekonferenz schildert Lwowa-Belowa Fälle, bei denen Kinder tatsächlich ukrainischen Familien zurückgegeben worden seien. In Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz seien mit Stand 29. März 16 Buben und Mädchen aus neun Familien zu ihren ukrainischen Eltern zurückgekehrt. Aus den Gebieten Luhansk und Donezk seien 380 Kinder aktuell in Betreuung russischer Familien. "Wir tun alles, um die Familien zusammenzubringen", versichert Lwowa-Belowa.

Die Kinderbeauftragte weist auch Vorwürfe der Ukraine und westlicher Staaten zurück, dass es "geheime Lager zur Umerziehung" der Kinder gebe. Es seien vielmehr Ferienlager, die der Erholung von Kindern aus dem Kampfgebiet dienten. Die Kinder würden nach ihrem Aufenthalt dort wieder zu ihren Familien zurückkehren. Lwowa-Belowa lädt die westlichen Korrespondenten und Korrespondentinnen ein, diese Camps zu besuchen und sich selbst ein Bild zu machen.

"Angebot" zu bleiben

Einen besonderen Fall hat derweil die deutsche ARD recherchiert: Ihor und seine Mutter Natalja Lysewitsch leben im Dorf Antoniwka nahe Cherson im Süden der Ukraine. Zu Beginn der Invasion erobern russische Truppen die Region. Ihor kommt in ein Ferienlager im russischen Anapa. Kurz vor Ende seines Aufenthalts erobert die ukrainische Armee die Region zurück. Ihor kann nicht zurück in sein Heimatdorf, Monate später darf seine Mutter ihn in Russland abholen.

In Anapa angekommen, sei die Mutter gefragt worden, ob sie in Russland bleiben wolle, berichtet die ARD. Auch andere Mütter, die in Russland waren, bestätigen solche "Angebote". Nachdem sie einige Dokumente unterschrieben habe, habe sie aber Ihor problemlos mit nach Hause nehmen können. (Jo Angerer aus Moskau, 12.4.2023)