Abklärer und Aufklärer zugleich: Konrad Paul Liessmann operiert gedanklich in den Unruhezonen unseres kulturellen Selbstverständnisses.

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Sein eigener Bildungsweg führte ihn einst zielstrebig vom Fußball zur Weltrevolution. Erst unlängst gab der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann zu Protokoll, dass ihm – dem damaligen Studenten der Germanistik – durchaus einmal an einer Umwertung aller Werte gelegen war.

Liessmann, mit jeder Faser kein Freund zeitgenössischer Cancel-Culture, hätte einstmals liebend gerne den Geheimrat Goethe vom Sockel gestoßen – und ihn durch den nicht besonders feinsinnigen DDR-Dichter Willi Bredel ersetzt. Heute würde man Liessmann, den soignierten "Denker auf der Bühne" und Günther-Anders-Schüler, nicht unbedingt in die Kolonne der Linksbewegten einreihen. Dabei kann sein Witz, fallweise geäußert auf dem Podium des von ihm alljährlich kuratierten Philosophicums Lech, ausgesprochen gallig, ja, sogar bitter sein.

Liessmanns Haltung gegenüber den Gegenständen, die er des Nachdenkens würdigt, ist die des Nichteinverständnisses. Denkschulen wird man nach ihm nicht benennen. Seine grundlegende Skepsis erprobt er an den vielfach törichten Anlässen, die ihm eine bis zur Weißglut gereizte, medial überhitzte Welt bietet. Den Abenteuergeist geweckt hat beim gebürtigen Kärntner die Lektüre der Romane Karl Mays: kein Wunder sohin, dass laut gewordene Einsprüche gegen Mays unbedenkliches Fabulieren bei ihm auf entschlossenen Widerstand stoßen.

"Geharnischt" wird man Liessmanns Einlassungen auf Gott und die Welt, vornehmlich aber auf eine Welt ohne Gott, darum nicht nennen wollen: Gesammelt vorliegen hat man sie in dem unlängst erschienenen Kolumnenband Lauter Lügen (Zsolnay). Eher schon wird man die Geschmeidigkeit von Liessmanns Argumentation, das elegante Nachzittern seines Prosarapiers, hervorheben wollen. Aus einem früher eindeutig links konnotierten Denker mit akademischer Karriere ist eine Art Kustos geworden. Vom Tiefstand der kulturellen Sonne unbeeindruckt, misst er die Länge der Schatten, die selbst Zwerge werfen.

Maß an Nietzsche nehmen

Das Maßband seiner Einsicht entnimmt er bevorzugt der Denkwerkstatt Nietzsches. Von diesem einst als skandalös gehandelten, umwälzenden Geist hat Liessmann gelernt, der allzu hohen Meinung, die der Mensch von sich und seinesgleichen hegt, gründlich zu misstrauen. Er hat, in Nachfolge von Anders, die Technikhörigkeit unserer Gesellschaft nicht gegeißelt, sondern überhaupt benannt. Er hat die Irrungen und Wirrungen, vor denen unser Bildungssystem aufgrund überschießender Reformbestrebungen nur so strotzt, aufs Korn genommen: indem er die pädagogisch grundvernünftige Ansicht äußerte, dass jedes Bildungsziel, das der Mühe wert sei, ohne entsprechende Anstrengungen, ja, ohne Entbehrungen nicht zu erlangen sein werde.

Konrad Paul Liessmann erforscht die eher halbdunklen Zonen unseres Selbstverständnisses. Dabei mobilisiert er die besten Kräfte der abendländischen Philosophiegeschichte, um sie sorgfältig gezielt gegen Großsprecher und Wichtigtuer zu richten. Man hat ihn gelegentlich als philosophischen Nacherzähler gescholten. Dabei wird gerne übersehen, dass er eine der allerbesten Monografien über Karl Marx geschrieben hat, die es überhaupt gibt (Man stirbt nur zwei Mal, 1992): Darin bringt Liessmann die Rolle Marx’ als Erzählkünstler des Kapitalismus spektakulär zur Geltung, indem er dessen Spiel rund um die Akteure Arbeit und Kapital als "Ballett der Kategorien" entlarvt.

Auf den Kopf stellen

Der Witz, Marx nicht als den ersten prototypischen Marxisten zu deuten, sondern ihn gewissermaßen von den Füßen zurück auf den Kopf zu stellen, ist brillant: ein Attribut, das sich so auch Liessmanns Darstellungen der modernen Künste (Reiz und Rührung, 2004) anhängen lässt. Konrad Paul Liessmann denkt nach, und er lässt auf der hochalpinen Bühne Lechs am Arlberg auch nachdenken.

Dass er mit dem Ruhestand – seit 2018 – anders denn universitär ernst gemacht hätte, wird man nicht sagen können. Liessmann scheut sich weiterhin nicht, als Überbringer schlechter Nachrichten den Sitz heimischer Scheuklappen anzuprangern. Die Fortführung alter Rebellionen heischt Zurückhaltung: Der Überschwang weicht dann dem Maß, das jemand hält, der abgeklärt genug ist, um wirksam aufzuklären. Am Donnerstag wird der elegante Denker Konrad Paul Liessmann 70 Jahre alt. (Ronald Pohl, 13.4.2023)