Inszenierung mit Puppen: Die Verdopplung der Figuren zeigt deren gespaltene Identitäten.

Foto: Armin Bardel

"Bin ich eigentlich ein richtiger Mensch? Und wenn ja: wer?" In mehreren Variationen taucht diese Frage in der Oper Kapitän Nemos Bibliothek von Johannes Kalitzke auf. Im Grunde kreist das ganze Stück um die in diesen Sätzen zum Ausdruck kommende existenzielle Verzweiflung. "Nemo" heißt "niemand". Das Libretto zu Kalitzkes Oper, die in einer Produktion der Neuen Oper Wien am Dienstag im Semperdepot Premiere hatte, geht auf den gleichnamigen Roman von Per Olov Enquist zurück. Der Ich-Erzähler wächst in einem Dorf im Norden Schwedens in einem gutbürgerlichen Haus auf, sein Freund Johannes in armen Verhältnissen. Dass beide ihren Müttern so gar nicht ähneln, sticht allen ins Auge.

Dunkle Begebenheiten

Schließlich stellt sich heraus, dass sie bei ihrer Geburt verwechselt wurden, und ein Gericht bestimmt, dass dieser Tausch rückgängig gemacht werden müsse. Beide sind sechs Jahre alt, als sie dieses Trauma erleiden. Die Ausweglosigkeit der Situation des Erzählers, der traumatische Bruch in beiden Biografien wird zur Chiffre für existenzielle Zwänge, Wahnsinn und Unglück. Rundum geschieht Dunkles.

Foto: Armin Bardel

Die Dramaturgin Julia Hochstenbach hat das fast Unmögliche vollbracht, aus der dichten Sprache des Romans ein Libretto zu destillieren, das von einer beklemmenden Situation zur nächsten führt. Hoffnung – ist zwischen den Zeilen zu lesen – kommt einzig aus der Welt der Fantasie. Die Figur des Kapitän Nemo und dessen Bibliothek sind jedoch wesentlich älter als Enquists 1991 erschienener Roman: Sie stammen aus Jules Vernes 20.000 Meilen unter dem Meer. Möglich, dass die "Ich" genannte Figur das Buch gelesen hat und sich nun in Fantasien flüchtet, um sich irgendwie zu retten.

Hochexpressive Charaktere

Komponist Kalitzke lässt seine Charaktere hochexpressiv deklamieren und kantable Linien spinnen. Ihre fordernden Parts bewältigen Ray Chenez als "Ich", Ewelina Jurga als Johannes sowie Elena Suvorova, Wolfgang Resch und Misaki Morino in weiteren Rollen bewundernswert. Präzise ist das Amadeus Ensemble Wien unter der Leitung von Walter Kobéra damit beschäftigt, die unentwegt nervös bewegte Partitur zu realisieren. Erstaunlich, wie viele Farben für das Düstere darin enthalten sind – einschließlich vielfältiger Kombinationen mit elektronisch generierten oder veränderten Klängen.

Foto: Armin Bardel

In der surrealen Welt des Bühnenbilds von Hana Ramujkic mit seinen pseudoidyllischen Miniaturhäusern inszeniert Simon Meusburger die Story mit einer Mischung aus naturalistischer Drastik und sparsamer Gestik. Durch die Verdopplung der Hauptfiguren durch Puppen, die der Komponist vorgesehen hat, nimmt die Spaltung der Identitäten sichtbare Gestalt an. Erst die am Ende erträumte Erlösung führt darüber hinweg. (Daniel Ender, 12.4.2023)