Diesmal sind sie die meiste Zeit am Brett gesessen. Nach Runde zwei war von vielen Beobachtern die Frage aufgeworfen worden, wie zuschauerfreundlich eigentlich eine Schach-WM ist, bei der einander zumeist zwei leere Sessel gegenüberstehen, weil die Kontrahenten es vorziehen, die Partie de facto von ihren Ruheräumen aus zu spielen.

Zootiere

Aus Sicht der Spieler ist das Verhalten, das besonders von Ding Liren während der ersten beiden Partien ausgereizt wurde, freilich durchaus nachvollziehbar: Im Ruheraum ist es gemütlicher, es gibt Snacks und Erfrischungen, und im Gegensatz zum Platz auf der kreisförmigen Bühne sitzt man dort, während man seinen nächsten Zug vor dem Monitor ersinnt, auch nicht in der gläsernen Auslage wie ein Pavian im Zoo.

Denken.
Foto: IMAGO/SNA

Da sich die meisten Top-Spieler spätestens während der Covid-Pandemie an Turnierschach am Computer gewöhnt haben, ist ihnen das Grübeln vor dem Bildschirm außerdem zur zweiten Natur geworden. Und so geschah es, dass die Sessel während der zweiten Partie ganze 27 Minuten lang leer blieben, weil Ding Liren länger nachdachte und Jan Nepomnjaschtschi augenscheinlich keine Lust hatte, unterdessen alleine am Brett herumzulungern.

Das Live-Publikum in Astana dürfte davon allerdings wenig amüsiert worden sein: Über 30 Dollar berappt man bei dieser WM für ein Ticket, das einem einen 45-minütigen Beobachtungsslot beschert – bei dem zwei über die Lehnen gehängte Jacketts sowie zwei Spieler, die nach Ausführung ihres Zuges sofort wieder entschwinden beobachtet werden konnten.

Nepos Überraschung

Ob die Kritik durchgedrungen ist oder ob Ding Liren einfach beschlossen hat, dass er etwas ändern muss: An diesem Mittwoch ist für das Publikum vor Ort ebenso wie im Internet sehr viel mehr Nachdenklichkeit am Brett zu beobachten. Und es gibt in Partie drei auch genügend Fragen, über die sich das Nachdenken lohnt.

Nepomnjaschtschi am Brett.
Foto: IMAGO/SNA

Denn zunächst einmal überrascht Jan Nepomnjaschtschi, ein passionierter 1.e4-Spieler, seinen Gegner mit dem Doppelschritt des Damenbauern. Zwar sind die Zeiten, in denen 1.d4 als weniger prinzipiell oder gefährlich denn 1.e4 galt, lange vorbei. Aber viele Angriffsspieler, wie Nepo zweifellos einer ist, geben nach wie vor 1.e4 den Vorzug. So tat es der Russe auch in Partie eins dieser WM – ebenso wie in fünf von sechs Weißpartien seines vergangenen WM-Matches gegen Magnus Carlsen.

Schnell kommt so der Verdacht auf, dass Nepo etwas Besonderes gegen Dings Nimzowitsch-Indisch ausgeheckt haben muss. Der Chinese ist bekannt für sein begrenztes, dafür aber extrem feuerfestes Eröffnungsrepertoire. Bei einem Zweikampf, der den Spielern und ihren Sekundanten Monate Zeit gibt, sich auf die Lieblingsvarianten des Gegners vorzubereiten, kann solche Treue zu den eigenen Gewohnheiten allerdings gefährlich werden.

Reise nach Karlovy Vary

Zu diesem Schluss scheint auch Ding gekommen zu sein, der im 4. Zug eben nicht seinen Läufer nach b4 schickt, um eine vor hundert Jahren noch als hypermodern gegeißelte Figurenkontrolle des Zentrums unter Aufgabe des Läuferpaares vorzubereiten. Nein, der Chinese entsagt den disruptiven positionellen Lehren Aaron Niwzowitschs für diese 3. Partie und schiebt stattdessen – so orthodox wie klassisch – seinen Damenbauern auf das Zentralfeld d5.

Nun ist es nicht so, als ob Ding noch nie so gespielt hätte. Jan Nepomnjaschtschi muss auch für den Fall eines orthodoxen Damengambits einen Plan für diese Partie mitgebracht haben. Mit 4.cxd5 lässt er erkennen, dass dieser Plan in der Herbeiführung einer Karlsbader Struktur durch Abtausch auf d5 besteht. Die beschert Weiß eine Bauernmehrheit im Zentrum, Schwarz im Gegenzug die Möglichkeit, seinen weißfeldrigen Läufer später etwas freier zu entwickeln.

Ding am Brett.
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Beide Spieler kennen die nun typischen Pläne selbstverständlich aus dem Effeff: Weiß kann entweder einen Minoritätsangriff am Damenflügel starten oder versuchen, den Zentrumsvorstoß e3-e4 durchzusetzen. Letzteres ist erheblich zweischneidiger, dafür im Erfolgsfall auch gefährlicher für Schwarz. Und mit 14.Tae1 zeigt Nepomnjaschtschi an, dass er sich wohl für den zweiten Plan entschieden hat.

Vier Rössel für ein Halleluja

Ein gekonntes schwarzes Springerballett später wird allerdings klar, dass es für Nepo auf die Schnelle keinen Weg gibt, den geplanten Vorstoß durchzusetzen. Stattdessen ist es mit 17…c5 schon Ding Liren, der das Zentrum als erstes öffnet. Während der Chinese in der Eröffnung viel Zeit verbraucht hat, scheint er sich in der entstandenen Stellung nun wohler zu fühlen als sein Gegner, der über wenig bis keine praktische Erfahrung mit der Karlsbader Struktur verfügt.

Spätestens als Ding Liren mit 22…Sb6 sein Rössel in Richtung weißer Damenflügel dirigiert, steigt bei kiebitzenden Fans des Chinesen der Puls: Ist Nepo aus dem Nichts in Schwierigkeiten gelandet? Auf die Schnelle ist jedenfalls nicht klar, wie der Russe eine Belagerung seiner Schwächen auf e3 und b2 durch den bald auf c4 auftauchenden Springer verhindern will.

Nur hat es schon einen Grund, warum der die weißen Steine führende Spieler die Nummer zwei der Weltrangliste ist. Nepo investiert zum richtigen Zeitpunkt einiges an Bedenkzeit und findet prompt einen ästhetisch ansprechenden Weg, den sich aufbauenden schwarzen Druck verpuffen zu lassen: Mit Zügen seiner beiden Springer nach a4 und b5 vertreibt er die schwarze Dame von ihrem aktiven Posten und bereitet zugleich eigenes Druckspiel gegen den Isolani auf d5 vor.

Im Remishafen

Bevor er es dazu kommen lässt, willigt Ding schon lieber in eine Springerschaukel ein, die der Partie den Weg in den Remishafen bereitet. Nach 30 Zügen und dreifacher Stellungswiederholung wird der Schiedsrichter herbeigerufen, um das Ergebnis zu zertifizieren. Es steht 2:1.

Für Ding Liren war die dritte Partie ein klarer Erfolg: Zum ersten Mal in diesem Match hatte der Chinese keinerlei Eröffnungsprobleme und konnte mit Schwarz sogar selbst etwas Druck ausüben. Dem in Führung liegenden Jan Nepomnjaschtschi kann die Punkteteilung allerdings auch nicht zu unangenehm sein.

Am Donnerstag folgt Partie 4. Ding Liren führt dann zum zweiten Mal im Match die weißen Steine. (Anatol Vitouch, 12.4.2023)