Türkei-Experte Hüseyin Çiçek schreibt in seinem Gastkommentar über die Ausgangslage vor der Wahl – und über die Chancen von Präsident Erdoğan auf Machterhalt.

Autoritäre Staaten können ihre Souveränität und ihr Überleben nicht allein bewerkstelligen. Sie sind darauf angewiesen, durch Allianzen und die daraus resultierende Unterstützung ihr autoritäres System im eigenen Land aufrechtzuerhalten. Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei AKP suchen seit Jahren die Nähe politisch gleich gesinnter Länder, um ihre wirtschaftliche Überlebensfähigkeit zu sichern. Die in den letzten 15 Jahren geschmiedeten Allianzen bieten Erdoğan und der AKP gute Chancen, die Parlaments- und Präsidentenwahlen am 14. Mai für sich zu entscheiden.

Präsident Erdoğan versprach zum Wahlkampfauftakt Lohnerhöhungen und eine Hochgeschwindigkeitszuglinie.
Foto: Reuters / Türk. Präsidentschaftskanzlei

Die politische Strategie des "starken Mannes" innerhalb der AKP begann bereits 2002/2003, als Erdoğan als "Heilsbringer" der türkischen Demokratie gefeiert wurde. Die Idee des "starken Mannes" wurde ab 2011 eingesetzt, wobei die AKP ab 2013 profitierte, als der syrische Bürgerkrieg begann und politische Umwälzungen in Ägypten stattfanden.

So wurden die Gezi-Park-Proteste 2011 als Angriffe auf die türkisch-islamische Identität verbucht. Die Entwicklungen in Ägypten ermöglichten der AKP, von der schlechten Wirtschaftslage abzulenken und ihre autoritäre Ausrichtung zu legitimieren. Zur Erinnerung: Das BIP fiel von 2011 bis 2013 von acht auf vier Prozent, und die Inflation stieg.

"Die Zeit der Interaktionen zwischen der Türkei und Russland ist noch lange nicht vorbei."

Die Absetzung und Inhaftierung von Ägyptens Präsident Mohammed Mursi nutzte Erdoğan für seine innenpolitische Agenda. Mursis Absetzung wurde als Unfähigkeit säkularer Gruppen interpretiert, islamisch-konservative Bewegungen und Parteien als Befürworter und Verteidiger demokratischer Politik anzuerkennen. Damit konnte die AKP säkulare Parteien und Institutionen in der Türkei als Feinde deklarieren. Die USA und die EU wurden ebenfalls kritisiert. Erdoğan inszenierte sich und Mursi als aufrichtige Demokraten mit islamischen Werten, um den Westen und seine politischen Gegner zu diskreditieren. Das Narrativ des starken Mannes und die Inszenierung Erdoğans als Retter der islamischen Demokratie finden weiterhin Anklang bei seinen Anhängerinnen und Anhängern.

Viel Überzeugungsarbeit

Die türkische Opposition möchte bei der Wahl mit einer Wende in der Innen- und Außenpolitik punkten und eine neue politische Ära einläuten. Gegen das Narrativ des starken Mannes konnte sie bisher wenig ausrichten, weil der Gegenkandidat des Oppositionsbündnisses, der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu, noch viel Überzeugungsarbeit leisten muss. Vor allem erfordert eine Wende in der Außenpolitik in der gegenwärtigen Situation der Türkei viele Antworten, wie das Beispiel Russlands zeigt.

Russland ist einer der wichtigsten Exportmärkte der Türkei, und das würde sich auch unter einer neuen Regierung nicht schnell ändern. Agrarprodukte aus Anatolien werden größtenteils vom nördlichen Nachbarn gekauft. Die etwa sechs Millionen russischen Touristinnen und Touristen pro Jahr sind eine bedeutende Einnahmequelle für die Türkei. Auch im Energiesektor sind beide Länder eng miteinander verbunden. Zum Beispiel wäre die Errichtung des ersten türkischen Kernkraftwerks, das etwa zehn Prozent des türkischen Energiebedarfs decken soll, ohne die Unterstützung Russlands nicht möglich.

Sollte eine neue Regierung eine Distanzierung von Russland beabsichtigen, müsste sie zunächst Alternativen finden, um daraus entstehende finanzielle Lücken zu schließen. Zudem wird Russland bestehende Verträge mit der Türkei nicht ohne weiteres konsensual auflösen. Die Zeit der Interaktionen zwischen der Türkei und Russland ist noch lange nicht vorbei.

Gewichtige Rolle Russlands

In der türkischen Politik ringen Demokratie und Autoritarismus um die Vorherrschaft, während die politische Landschaft Züge eines Schauspiels annimmt. Präsident Erdoğan, einst als Heilsbringer der Demokratie gefeiert, hat sich in den Augen vieler zu einem autoritären Herrscher gewandelt und sucht nun Zuflucht in der Nähe politisch gleich gesinnter Länder, um sein Regime zu sichern. Die Wirtschaft, einst das stolze Zugpferd der türkischen Politik, ist zum Spielball geworden, auf dessen Schachbrett die AKP geschickt ihre Figuren bewegt, um mithilfe des "starken Mannes" den Sieg davonzutragen.

Doch in dieser düsteren Szenerie erhellt die Hoffnung auf eine Wende das Gemüt der türkischen Opposition, die eine neue Ära heraufbeschwören möchte. Der russische Nachbar indes, einer der Hauptakteure auf der internationalen Bühne, wird weiterhin eine bedeutende Rolle im türkischen Drama spielen. So stehen die türkischen Protagonisten, getrieben von innenpolitischen und internationalen Herausforderungen, vor der Wahl: Entweder sie schreiten mutig zurück in Richtung Demokratie, oder sie versinken tiefer in den Strudel des Autoritarismus. (Hüseyin Çiçek, 14.4.2023)