Kommt die SPÖ mit dem Wahlmodus raus aus ihrem Dilemma? Politologe Laurenz Ennser-Jedenastik nähert sich dieser Frage in seinem Gastkommentar mit einem überraschenden Beispiel an.
Stellen Sie sich vor, auf einer Geburtstagsfeier müssten sich neun Kinder auf eine Sorte Eis als Nachspeise einigen: Ananas (A), Banane (B) oder Clementine (C). Vier Kinder bevorzugen Ananas gegenüber Banane und Banane gegenüber Clementine (also die Reihung ABC). Zwei Kinder präferieren Banane gegenüber Clementine, Ananas ist ihre letztgereihte Option (also BCA). Drei Kinder schließlich reihen Clementine vor Banane und Ananas zuletzt (also CBA). (Nur zu, malen Sie sich das auf einem Blatt Papier auf, das hilft beim Mitdenken!)
Wie entscheiden?
Wie sollen sich die Kinder für eine Eissorte entscheiden? Zunächst schlägt der Vater des Geburtstagskindes eine simple Methode vor: Jedes Kind nennt seine Lieblingssorte unter den drei Optionen, und die Sorte mit den meisten Stimmen ist gewählt. Bei den gegebenen Präferenzverteilungen (viermal ABC, zweimal BCA, dreimal CBA) ergibt das vier Stimmen für Ananas, drei für Clementine und zwei für Banane – Ananas gewinnt.
Die Mutter des Geburtstagskindes findet den Entscheidungsmodus suboptimal – immerhin hat die Gewinnersorte nicht einmal die Hälfte der Stimmen bekommen. Also muss eine Stichwahl zwischen den beiden erstgereihten Sorten Ananas (vier Stimmen) und Clementine (drei Stimmen) her. Da die zwei Bananen-Fans (BCA) Clementine gegenüber Ananas bevorzugen, gewinnt Clementine in der Stichwahl gegen Ananas mit fünf zu vier.
Ein besonders gewieftes Kind hat einen ganz anderen Vorschlag zur Entscheidungsfindung: Jedes Kind gibt seiner Erstpräferenz drei Punkte, der Zweitpräferenz zwei Punkte, der Drittpräferenz einen Punkt. Die Sorte mit der höchsten Gesamtsumme an Punkten ist gewählt. Mit dieser Methode kommen Ananas und Clementine auf je 17 Punkte – Banane aber gewinnt: Zweimal Erstpräferenz (bei BCA) und siebenmal Zweitpräferenz (bei ABC und CBA) ergeben zusammen 20 Punkte.
Dieses kleine Beispiel zeigt eine der zentralen Erkenntnisse der Sozialwahltheorie: Sobald drei oder mehr Optionen zur Wahl stehen und die Präferenzen der Wählerinnen und Wähler einigermaßen verteilt sind, hängt das Ergebnis allein vom Entscheidungsmodus ab. Anders gesagt: Den Wählerwillen gibt es nicht – er wird nur durch das Wahlsystem determiniert. Dabei ist kein Wahlsystem per se besser oder schlechter als die Alternativen; alle haben Vor- und Nachteile.
Der Ökonom Kenneth Arrow hat schon in den 1950er-Jahren in seinem "Unmöglichkeitstheorem" den mathematischen Beweis geführt (und unter anderem dafür später den sogenannten Wirtschaftsnobelpreis bekommen), dass bei drei oder mehr zur Wahl stehenden Alternativen kein Wahlsystem existiert, das folgende vier Bedingungen gleichzeitig erfüllen kann: 1) Ein Wähler allein darf nicht als Diktator das Ergebnis für die Gruppe determinieren. 2) Die Wählerinnen und Wähler können die zur Verfügung stehenden Optionen beliebig reihen. 3) Wenn das Gruppen-Wahlergebnis A vor B reiht, darf sich das nicht dadurch umkehren, dass einige Wählerinnen und Wähler Option A in ihrer Präferenzordnung nach oben verschieben. 4) Wenn alle Wählerinnen und Wähler Option A gegenüber Option B präferieren, muss das Wahlergebnis für die Gruppe ebenso A vor B reihen.
Simpel ausgedrückt: Für Wahlen mit mehr als zwei Optionen existiert kein Wahlverfahren, das diese vier recht einleuchtenden Kriterien erfüllt. Nicht auf einem Kindergeburtstag – und auch nicht in der Politik.
Prolongierter Konflikt
Womit wir bei der SPÖ wären. Die ist nach einem jahrelang schwelenden Konflikt zwischen Pamela Rendi-Wagner und Hans Peter Doskozil in eine Mitgliederbefragung über Parteivorsitz und Spitzenkandidatur gestolpert. Aus dem vermeintlichen Duell wurde durch die Kandidatur von Andreas Babler nun aber ein Dreikampf – und damit wird Arrows Unmöglichkeitstheorem schlagend.
Ob den SPÖ-Spitzen die Erkenntnisse Arrows über Wahlsysteme bekannt sind, ist nichtbekannt. Selbst wenn, wäre das aber keine Rechtfertigung dafür, sich erst gar nicht explizit auf einen Wahlmodus festzulegen – ganz im Gegenteil. Gerade weil kein Wahlverfahren allen anderen überlegen ist, sollte der Entscheidungsmodus jedenfalls außer Streit gestellt werden. Wo nämlich nicht einmal Konsens über das Wahlsystem herrscht, sind Konflikte über die Legitimität des Resultats programmiert. Das Ziel, öffentlich ausgetragene Personaldiskussionen durch eine Befragung der Mitglieder zu beenden, hätte man damit erst recht konterkariert.
Geringe Unterschiede
Gerade bei parteiinternen Wahlen gibt es zudem Argumente dafür, unter all den imperfekten Wahlsystemen eines auszuwählen, das eine für möglichst viele Mitglieder zumindest akzeptable Person für die Parteispitze ermittelt – auch wenn diese nicht unbedingt der Erstpräferenz einer Mehrheit entspricht. Immerhin sind bei so einer Wahl die ideologischen Unterschiede zwischen den antretenden Personen deutlich geringer als bei allgemeinen Wahlen. Damit steigen die Chancen, dass viele Mitglieder mehr als eine Option als tolerabel erachten. Eine möglichst breite Akzeptanz des oder der Gewählten erleichtert außerdem der Partei das effektive Auftreten nach außen.
Vermurkster Prozess
Derzeit reicht die Absurdität der Lage aber so weit, dass die drei Kandidierenden selbst von unterschiedlichen Wahlverfahren ausgehen: Rendi-Wagner und Doskozil haben erklärt, nur als Stimmenstärkste am Parteitag (der das Votum der Mitglieder absegnen muss) antreten zu wollen – sie gehen also de facto von einer relativen Mehrheitswahl aus. Demgegenüber redet Babler einer Stichwahl zwischen den beiden Erstplatzierten das Wort, sollte niemand eine absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erreichen.
Dass ein dermaßen vermurkster Prozess nur schwer in einem befriedigenden Ergebnis münden kann, lässt sich auch ohne Nobelpreis recht gut prognostizieren. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 15.4.2023)