Noch kann sich Präsident Macron nicht in Sicherheit wägen.

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Paris – Der Verfassungsrat in Paris war am Freitag eine einzige Festung. Polizeikordons und mobile Sperrwände schirmten das altehrwürdige Gebäude ab, die nächste Metrostation Louvre war geschlossen. Der Anlass war explosiv: Die neun "Weisen" – drei Frauen und sechs Männer, darunter die zwei ehemaligen Premierminister Laurent Fabius und Alain Juppé – hatten über die Verfassungsmäßigkeit der umkämpften Rentenreform zu befinden.

Am Donnerstag und Freitag gingen Hunderttausende Menschen in mehreren Städten Frankreichs auf die Straßen, um gegen die Rentenreform zu protestieren
DER STANDARD

Am Abend gab das höchste Gericht des Landes bekannt, dass es die zentrale Bestimmung von Macrons Rentenreform genehmige. Die Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre gilt damit als verfassungskonform. Das ist für Macron ein Erfolg, der klarer ausfällt als erwartet.

"Seniorenindex" gestrichen

Die neun Spitzenjuristen streichen nur einzelne Nebenpunkte der Reform, so einen "Seniorenindex", den die Regierung während der Parlamentsdebatte in das Gesetz aufgenommen hatte. Diese soziale Maßnahme sollte die Unternehmen daran hindern, ältere Angestellte vor der Pensionierung zu entlassen. Der Verfassungsrat hält einen solchen Index für eine Verletzung des Gleichheitsprinzips.

Aus dem Élysée-Palast verlautete am Freitagabend, Macron wolle das Gesetz noch an diesem Wochenende "promulgieren", das heißt verkünden, damit es in Kraft treten könne. Dem Präsidenten liege daran, die Reform rasch hinter sich zu bringen. Premierministerin Élisabeth Borne erklärte versöhnlich, es gebe "keine Sieger und keine Besiegten". Der Vorsteher der konservativen Republikaner, Eric Ciotti, forderte alle Seiten auf, das Verdikt zu akzeptieren.

Gesetz für Linke jetzt "noch ungerechter"

Mathilde Panot von der Linksaußenpartei der "Insoumis" (der "Unbeugsamen") erklärte dagegen, der Rentenkonflikt sei keine juristische, sondern eine politische Frage, und der rein juristische Entscheid des Verfassungshofs ändere nichts an der Entschlossenheit ihres Lagers, das Projekt zu Fall zu bringen. Das Gesetz sei jetzt noch ungerechter als zuvor, da die Verfassungshüter die sozialen Begleitmaßnahmen – und nur sie – gekippt hätten.

Die neue Chefin der Gewerkschaft CGT, Sophie Binet, und Linkenchef Jean-Luc Mélenchon erklärten unisono: "Der Kampf geht weiter!" Der Tag der Arbeit am 1. Mai solle ein neuer Höhepunkt der Mobilisierung werden.

Die Streiks und Demos werden damit nicht so schnell zu Ende gehen. Bei einer spontanen Versammlung vor dem Pariser Rathaus prangten Transparente mit der Aufschrift "Klima der Wut". Neue Krawalle sind damit programmiert – wobei die Protestierenden Macron verantwortlich machen, weil er sich völlig uneinsichtig zeige.

Polizei spricht intern Warnung aus

Die Pariser Polizei warnte am Freitag in einem internen Schreiben vor "entschlossenen, radikalen und sehr gewaltbereiten Elementen". Der Politologe Alain Duhamel zeigte sich "beunruhigt" über die "gefährliche" Stimmung im Land, nachdem der Verfassungsrat nun auch die Tür für den letzten Ausweg – eine Volksabstimmung – zugeschlagen habe.

Die Linkskoalition Nupès und die Rechtspopulistin Marine Le Pen hatten zuvor getrennt die Abhaltung eines Referendums gefordert. Es sollte ein Höchstrentenalter von 62 Jahren in die Verfassung einschreiben und die Macron-Reform damit unterlaufen. Der Conseil constitutionnel hat dieses Vorgehen am Freitag zurückgewiesen, weil die Finanzierung nicht gewährleistet sei.

Neuer Antrag auf Referendum

Die Unbeugsamen von Jean-Luc Mélenchon haben zwar bereits ein zweites Referendumsgesuch deponiert, das präzisiert, wie die Renten zu berappen wären – nämlich mit den "Gewinnen auf Börsenpapieren, Aktien und Dividenden". Diese geradezu revolutionäre Finanzierung des Umlageverfahrens hat aber auch wenig Chancen. Selbst wenn der Conseil in den nächsten Tagen grünes Licht geben sollte, bliebe eine hohe Hürde für ein solches "référendum d’initiative partagée" (RIP): Nötig wären 4,8 Millionen Unterschriften, was einem Zehntel der Stimmberechtigten entspricht. Das hat noch keine politische Partei geschafft. Wie es weitergeht, hätte deshalb am Freitagabend in Paris niemand sagen können. (Stefan Brändle aus Paris, 14.4.2023)