Astana – Es ist kalt in Astana. Sehr kalt. Von -7 Grad ist in der Pressekonferenz nach Partie fünf die Rede, und die Spieler werden gefragt, ob der Kälteschock samt Schneechaos sich auf ihr Spiel oder ihre Freizeitgestaltung am spielfreien Freitag ausgewirkt habe.

Mit so viel Feuer am Brett eine eigentlich deplatzierte Frage. Am Donnerstag hatte es nach Dings überzeugendem Comeback-Sieg noch so ausgesehen, als könnte das Match nun in Richtung des Chinesen kippen. Aber in Runde 5 stellt Jan Nepomnjaschtschi überzeugend klar, dass er gegen diese Dramaturgie einiges einzuwenden hat.

22 Züge Vorbereitung

Zum Beispiel eine hervorragende, mindestens bis Zug 22 reichende Vorbereitung in einer der ruhigen d3-Mode-Varianten des Geschlossenen Spaniers, die auf höchstem Niveau längst zu einem der Hauptkampfgebiete für weißen Eröffnungsvorteil in Königsbauerneröffnungen mutiert sind.

Nepo legt wieder vor.
Foto: IMAGO/Grigory Sysoev

Während die Kontrahenten in den Runden eins bis vier immer beide recht früh ihre eigenen Fähigkeiten bemühen mussten, ist Nepo diesmal eindeutig lange Zeit "im Buch" und blitzt seine Züge bis tief in ein typisch spanisches Mittelspiel herunter. Ding Liren muss dagegen schon nach Nepos erster Überraschung 10. a4!? das erste Mal etwas Zeit nehmen – ein Zug, den Youngster Alireza Firouzja kürzlich in die Großmeister-Praxis eingeführt hatte.

Obwohl Ding den Geschlossenen Spanier aus schwarzer Perspektive wohl besser kennt als jeder andere Top-Spieler, gelingt es dem Chinesen in der Folge nicht, den besten Defensivaufbau gegen Nepomnjaschtschis gemächlich, aber entschieden vorgetragenes Druckspiel zu finden. Insbesondere die im 19. Zug begonnene Überführung des Königsläufers auf den Damenflügel sieht gekünstelt aus, entzieht Ding seinem König damit doch den Beistand einer wichtigen Verteidigungsfigur, den dieser womöglich noch bitter benötigen könnte.

Weißfeldriges Powerplay

Tatsächlich wird dieser Läufer für den Rest der Partie kaum mehr eine Rolle spielen, obwohl er bis zum Schluss am Brett bleibt. Denn nachdem Nepo erst im Zentrum vorgestoßen ist und die daraus resultierende größere Bewegungsfreiheit seiner Figuren dann für einen Schwenk in Richtung schwarzer Monarch genutzt hat, sieht Ding sich genötigt, sein verbliebenes Rössel gegen einen der weißen Angriffsspringer abzutauschen.

Und das führt nach 30 Zügen zu einer Konstellation, in der Nepomnjaschtschi ein rein weißfeldriges Powerplay auf allerhöchstem Niveau abliefert. Mit einer Mischung aus geschickter Prophylaxe, konsequenter Zentralisation und forschem Angriffsspiel auf der g-Linie degradiert der Russe nicht nur den an die schwarzen Felder geketteten Läufer seines Gegners, sondern bald auch dessen Schwerfiguren zu bloßen Statisten einer überzeugenden Vorführung.

Es ist die perfekte Revanche für Partie vier, die Nepo während des kasachischen Wintereinbruchs an diesem Samstag gelingt. Ding kann nur hilflos mit Grundreihenzügen seines Turmes abwarten, während der Weiße mit 37. g5! die entscheidende Bresche in den schwarzen Verteidigungswall schlägt.

Nichts ist verloren

Danach geht alles sehr schnell. Zwar gelingt es Ding mit knapper Not noch, die Damen zu tauschen und die Lebenserwartung seines Königs damit um einige Züge zu verlängern. Nach 44. f6! Ist das entstandene Endspiel aber hoffnungslos verloren: Der wohlzentralisierte weiße Springer auf e4 erfüllt perfekt offensive wie defensive Aufgaben und schirmt den weißen König genau so lange vor Schachs des schwarzen Turms ab, wie Nepo benötigt, um ein Mattnetz für den König des Schwarzen zu knüpfen.

Nach 48 Zügen gibt Ding Liren auf, weil sein König sonst rasch der weißen Meute zum Opfer fiele (zB: 48…Lxf2 49. Th8+ Kf7 50. Kf5 mit Matt durch den Springer im nächsten Zug).

Nach seiner großartigen Leistung in Partie vier ist das für Ding Liren natürlich eine besonders bittere Niederlage, wie er nach der Partie auch selbst eingesteht. Verloren ist aber noch gar nichts: Mit bereits drei entschiedenen Partien in nur fünf Runden ist dieses WM-Match bislang eines der lebendigsten und abwechslungsreichsten der jüngeren Geschichte. Ding liegt mit 3:2 zurück, aber schon in Partie sechs am Samstag hat er mit den weißen Steinen Gelegenheit, auf den neuerlichen Ausgleich loszugehen.

Astana calling

Und Magnus Carlsen? Der scheint langsam zu befürchten, dass ihn angesichts der tollen Vorstellung in Astana bald niemand mehr besonders vermissen könnte. Jedenfalls twitterte der norwegische Noch-Weltmeister, der dem Vernehmen nach bei einem Pokerturnier in Los Angeles weilt, während Partie fünf etwas kryptisch: "Astana calling".

Ob Carlsen einen Besuch der WM als Zuschauer plant oder mental bereits sein WM-Comeback vorbereitet: Astana ruft aktuell sicher nicht nach ihm, sondern nach weiteren hochklassigen und spannenden Partien der Marke Nepo-Ding. (Anatol Vitouch, 15.4.2023)