Um 24 Uhr in der Nacht von Samstag auf Sonntag war die Stromproduktion am abgebildeten Atomkraftwerk Isar 2 im bayerischen Essenbach nicht mehr erlaubt.

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Berlin – Nach gut sechs Jahrzehnten Atomenergie sind am späten Samstagabend die drei letzten Kernkraftwerke in Deutschland vom Netz gegangen. Ab Mitternacht war die Stromproduktion in den Meilern Isar 2 in Bayern, Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg und Emsland in Niedersachsen durch Kernspaltung gemäß dem bundesweiten Atomgesetz nicht mehr erlaubt. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) will aber AKW in Landesverantwortung weiter betreiben und verlangt eine Gesetzesänderung.

"Das Kapitel ist nun abgeschlossen", sagte der Chef des Emsland-Betreibers RWE, Markus Krebber, in einer Mitteilung. "Jetzt kommt es darauf an, die ganze Kraft dafür einzusetzen, neben Erneuerbaren Energien auch den Bau von wasserstofffähigen Gaskraftwerken möglichst schnell voranzutreiben, damit die Versorgungssicherheit gewährleistet bleibt, wenn Deutschland 2030 idealerweise auch aus der Kohle aussteigen will."

"Wir arbeiten nach Recht und Gesetz und da ist es eindeutig, dass der Leistungsbetrieb ab dem 16. April eine Straftat wäre", sagte der Chef-Atomaufseher des Bundes, der Abteilungsleiter für Nukleare Sicherheit und Strahlenschutz im Umweltministerium, Gerrit Niehaus, der Deutschen Presse-Agentur.

Mehrere "Atomausstiegsfeste"

Vor gut 62 Jahren war Deutschlands erstes Atomkraftwerk im unterfränkischen Kahl in den kommerziellen Betrieb gegangen. Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 setzte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den endgültigen Ausstieg aus der Technologie in Deutschland durch. Eigentlich hätten die Meiler demnach schon Ende vergangenen Jahres vom Netz gehen sollen. Wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine entschied die Ampel-Koalition ihres Nachfolgers Olaf Scholz (SPD) nach wochenlanger Diskussion im Herbst jedoch, die drei Meiler über den Winter bis Mitte April weiterlaufen zu lassen.

Mit dem Ausstieg beginnt nun eine neue Energie-Zeitrechnung: Kernkraftgegner feierten den historischen Schritt am Samstag mit Festen in Berlin und anderswo. Mehrere Hundert Menschen kamen zu einem "Abschaltfest" nach Neckarwestheim und auch in München veranstalteten der Bund Naturschutz und Greenpeace ein "Atomausstiegsfest". Im niedersächsischen AKW-Standort Lingen demonstrierten Hunderte Atomkraftgegner gegen die dort ansässige Brennelementefabrik ANF, die zum französischen Framatome-Konzern gehört, und forderten auch deren Schließung.

In München und anderen Teilen Deutschlands wurde der Atomausstieg gefeiert.
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Internationaler Umgang mit Atomenergie

Es ist international aber nicht der erste Abschied von der Atomenergie: Italien ist schon im Zuge der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (1986) aus der Kernenergie ausgestiegen. Andere Länder gehen andere Wege. In Belgien sollen AKWs doch bis mindestens Ende 2035 weiterlaufen können. Die Schweizer Kernkraftwerke dürfen so lange betrieben werden, wie sie sicher sind; der Bau neuer Anlagen ist aber verboten. Spaniens linke Regierung will alle Kernkraftwerke des Landes zwischen 2027 und 2035 schließen.

Die Herausforderungen im Umgang mit der Hochrisikotechnologie bleiben in Deutschland aber auch nach dem Abschied vom Atomstrom. Zunächst einmal müssen die Meiler möglichst schnell zurück gebaut werden. Das Atomgesetz habe die Regelung, dass die Kernkraftwerke unverzüglich abzubauen sind, sagte Atomaufseher Niehaus. "Das heißt einerseits, das Abbau-Genehmigungsverfahren voranzutreiben, aber auch schon erste zulässige Schritte in Richtung Abbau vorzunehmen."

Wohin mit den radioaktiven Abfällen?

Nach Angaben des baden-württembergischen Betreibers EnBW sei bereits 2012 eine Strategie für den Rückbau ihrer Kernkraftwerke entwickelt worden. So würden auch bereits alle Rückbaugenehmigungen vorliegen. Der Isar-2-Betreiber, die Eon-Gesellschaft Preussen-Elektra, rechnet hingegen mit der Erteilung in den kommenden Monaten und damit, dass der Rückbau dann Anfang 2024 beginnen könnte.

Und dann stellt sich noch die Frage, wohin mit den radioaktiven Abfällen? "Wir haben etwa drei Generationen lang Atomkraft genutzt in unserem Land und dabei Abfälle produziert, die noch für 30.000 Generationen gefährlich bleiben", hatte Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) gesagt. "Diese Verantwortung übergeben wir an unsere Enkel, Urenkel und noch viele weitere Generationen." Deutschland stecke mitten in der Endlagersuche, was eine komplexe Aufgabe für die gesamte Gesellschaft sei.

Bayern: CSU-Söder will weiter Kernkraftwerke betreiben

Querschüsse kamen indes aus Bayern: Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder von der konservativen CDU-Schwesternpartei CSU will Atomkraftwerke wie den Samstagnacht abgeschalteten Meiler Isar 2 in Landesverantwortung weiterbetreiben und verlangt vom Bund daher eine Änderung des Atomgesetzes.

Man fordere eine eigene Länderzuständigkeit für den Weiterbetrieb der Kernkraft, sagte Söder (CSU) der "Bild am Sonntag". "Solange die Krise nicht beendet und der Übergang zu den Erneuerbaren nicht gelungen ist, müssen wir bis zum Ende des Jahrzehnts jede Form von Energie nutzen."

Bayern wolle zudem als Vorreiter in die Forschung zur Kernfusion und den Bau eines eigenen Forschungsreaktors einsteigen, bekräftigte Söder gegenüber der Zeitung. Dies könne gern in Zusammenarbeit mit anderen Ländern geschehen. Zudem brauche es dringend eine nationale Forschungsstrategie für eine Nutzbarkeit des Atommülls. Man sei es künftigen Generationen schuldig, nicht nur über ein Endlager in ferner Zukunft zu diskutieren, sondern auch innovative Pläne für eine verantwortungsvolle und technologische Lösung zu entwickeln.

Kritik an der Forderung Söders

In einem am Donnerstag erschienenen Interview mit "Focus online" hatte Söder die Abschaltung der letzten drei AKWs in Deutschland kritisiert und erklärt, das ergebe zu diesem Zeitpunkt aus pragmatischen Gründen keinen Sinn. Auf die Frage, wie er diesen Prozess noch stoppen wolle, hatte er gesagt, sollte die Union die nächste Bundestagswahl gewinnen, "sollte es eine Verlängerung der Kernenergie geben". Im Oktober wird in Bayern ein neuer Landtag gewählt.

Fur die Grünen-Bundestagsfraktionschefin Britta Haßelmann ist die Forderung reine Parteitaktik. "Söders Aussagen sind ein durchsichtiges Wahlkampfmanöver", sagte sie am Sonntag der Deutschen Presse-Agentur. Auch das Bundesamt für die Sicherheit nuklearer Entsorgung (Base) übte Kritik. "Die heutigen Forderungen des Bayrischen Ministerpräsidenten unterstreichen, wie wichtig es ist, dass die politische Verantwortung für die nukleare Sicherheit in Deutschland bei der Bundesregierung liegt", sagte Base-Präsident Wolfram König am Sonntag der Deutschen Presse-Agentur. Der geforderte Sonderweg Bayerns widerspreche geltendem Recht und gefährde die Endlagersuche. (red, APA, 16.4.2023)