Am Wochenende kam es in Frankreich in vielen Städten (hier in der Bretagne-Hauptstadt Rennes) zu Zusammenstößen mit der Polizei. Autos wurden in Brand gesteckt, Ladengeschäfte verwüstet.

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Es war kurz nach drei Uhr nachts, als das Präsidialamt im Elysée-Palast am Samstag die Pensionsreform "promulgierte" (verkündete). Am Vorabend hatte der Verfassungshof die umkämpfte Erhöhung des Pensionsalters von 62 auf 64 Jahre abgesegnet. Das Reformwerk soll am 1. September in Kraft treten.

Die Gegenseite gibt sich noch nicht geschlagen. Manon Aubry von der Linkspartei der "Unbeugsamen" warf dem Staatschef vor, er habe den Text "wie ein Dieb mitten in der Nacht im Verborgenen" unterzeichnet. Der gemäßigte Gewerkschafts-Chef Laurent Berger warnte, die "Missachtung" des Volkswillens könne in "Gewalt" umschlagen. Kommunistenchef Fabien Roussel hatte schon nach Bekanntwerden des Verfassungsverdiktes eindringlich an den Staatschef appelliert, das Gesetz nicht zu promulgieren. "Das würde das Land in Brand stecken", warnte er.

Gewaltausbrüche in Rennes

Am Wochenende kam es in Frankreich von Nizza bis in die Bretagne-Hauptstadt Rennes zu spontanen Aufläufen und am Rande zu Zusammenstößen mit der Polizei, die zahlreiche Demonstranten verhaftete. Autos wurden in Brand gesteckt, Ladengeschäfte verwüstet.

Premierministerin Elisabeth Borne wiederholte dagegen an einer Veranstaltung der Macron-Partei Renaissance, es gebe "keine Sieger oder Besiegten". Gewiss handle es sich um eine "schwierige Reform", doch sie nehme Rücksicht auf die einzelnen Situationen. Wer mit 18 Jahren zu arbeiten begonnen habe, könnte schon mit 60 in Rente gehen. Für körperlich harte Jobs würden berufliche Weiterbildungen finanziert.

Der Gewerkschaftschef Berger hielt dagegen, namentlich für Arbeiter werde sich nun "das Leben verändern". Sie seien "alle Verlierer". Gegen die zunehmende Resignation seines Lagers ankämpfend, rief Berger zu einer massiven Mobilisierung am Tag der Arbeit des 1. Mai auf. Das klingt allerdings eher nach einer Pflichtantwort. In den letzten drei Monaten waren wöchentlich mehr als eine Million Demonstranten auf die Straße gegangen, doch die Zahl waren zuletzt im Abnehmen begriffen, und eine gewisse Ermüdung ist im Lager der Reformgegner unübersehbar.

Chance für Gegner im Mai

Ein harter Schlag ist für sie auch, dass der Conseil Constitutionnel ihr Projekt für eine Volksabstimmung zum Pensionsalter als nicht verfassungskonform ablehnte. Ein zweites Gesuch, über das anfangs Mai entschieden wird, scheint nicht viel größere Chancen zu haben.

Macron will das Momentum ausnützen, nachdem ihm der Verfassungsrat in einem unerwarteten Ausmaß recht gegeben hat. Am Montagabend wird er sich der Nation am Fernsehen erklären. Trifft er den richtigen Ton, kann er den Pensionskonflikt möglicherweise doch noch aussitzen. Seine Berater sind aber besorgt: Bei einem ersten Auftritt Mitte März hatte Macron die Gegenseite mit einem abgehobenen und unversöhnlichen Tonfall nur noch weiter vor den Kopf gestoßen.

Politischer "Scherbenhaufen"

Die Pariser Medien machen schon jetzt einen sozialen und politischen "Scherbenhaufen" aus. Viele fragen, wie der Präsident bis zu den nächsten Wahlen 2027 regieren wolle, wenn er es mit so vielen Landsleute verscherzt habe und in der Nationalversammlung über keine Mehrheit mehr verfüge. Möglich ist, dass er am Montag eine Reihe von sozialen Reformen ankündigt, unter anderem, damit Senioren vor ihrem 64 Altersjahr nicht so einfach auf die Straße gestellt werden können. Dass Macron Neuwahlen ansetzt, ist nicht zu erwarten. Seine Partei könnte derzeit nur verlieren, während die Rechtspopulistin Marine Le Pen laut Umfragen konstant zulegt. Die neue Vorsteherin der Gewerkschaft CGT, Sophie Binet, warf Macron am Wochenende vor, er öffne Le Pen mit seinem sturen Beharren "Tür und Tor". (Stefan Brändle, 16.4.2023)