Vor der Kinderbuchlesung begrüßt Freya van Kant kurz die solidarisch demonstrierenden Unterstützer.

Foto: Katharina Wolf

"Ein absoluter Wahnsinn!", schreit ein Mann in brauner Jacke auf dem Podium auf der Linken Wienzeile, "Transvestitenshows für Kinder! Das wollen wir nicht!" Der Mann spricht vor rund 200 Rechtsextremen, wie den Identitären, der Gruppe Die Österreicher und vor Teilen der FPÖ-Jugend, die sich alle am Sonntag um neun Uhr zu einer Demo gegen eine Kinderbuchlesung getroffen haben. Sie sind vor der Türkis Rosa Lila Villa aufmarschiert, dem Beratungs- und Veranstaltungszentrum der Lesben-, Schwulen- und Transgender- oder kurz: LGBTQI-plus-Community. Weil hier heute eine Dragqueen Kindern ein Kinderbuch vorlesen soll. Eine Kulturveranstaltung, die sich als Förderung von Toleranz für Diversität versteht.

Der demonstrierende Mann will mit der Menschenmenge den Text auf einem kleinen weißen Zettel, den man ausgeteilt hat, üben. "Wir gehen jetzt jede einzelne Parole noch mal durch", sagt er und beginnt gleich mit einer, "die nicht auf dem Zettel steht: Heimat, Freiheit, Tradition, Globohomo Endstation". Ein paar Leute stolpern über das Wort Globohomo. Doch noch "ein bissl schwieriger wird es", gibt der Animateur zu, als sie beim nächsten Slogan auch rhythmisch klatschen sollen. Bei der nächsten Parole überschlägt sich die Stimme des Mannes am Mikro: "Familien fördern, Grenzen dicht, eure Lesung wollen wir nicht!"

Ausverkauft

Stefan, Nadja und Saskia wollten schon zu der Lesung. Die drei haben alle Kinder im Kinderhaus, einem Kinderbetreuungshaus mit Schule, Kindergruppen und Hort gleich neben der Villa. "Aber wir haben leider keine Karten mehr bekommen, es ist schon lange ausverkauft", sagt Stefan. In der benachbarten Villa liest heute nämlich Freya van Kant, eine bekannte Drag-Performerin, die auch schon Miss Tuntenball in Graz war, aus einem Kinderbuch.

Die Polizei bildete eine Pufferzone zwischen den beiden angemeldeten Kundgebungen.
Foto: Katharina Wolf

Die Eltern wundern sich, dass die Polizeibeamten, von denen hier heute hunderte Dienst machen, "nicht einmal wussten, dass hier auch ein Kinderbetreuungshaus ist" – nämlich seit Jahrzehnten. Sie wurden gebeten, "die Fenster nicht zu öffnen und nicht zu provozieren", erzählt Nadja. Ihren Kindern im Alter von vier, fünf und sieben die laute Demo zu erklären, deren Schreie und Marschmusik bis in den Raum mit den kleinen Holzbänken und den Gymnastikbällen dringen, sei nicht einfach. Warum dürfen Männer keine Kleider anziehen, habe sich ihre Tochter gewundert, erzählt Nadja: "Es ist für die Kinder relativ irrelevant, was der Mensch anzieht, solange das Buch gut ist."

Dass man den rechten Aufmarsch vor ihrem Haus zulasse, obwohl hier auch an Wochenenden oft Veranstaltungen mit Kindern stattfinden, verstehe sie nicht. Doch die Polizei hatte schon im Vorfeld festgelegt, dass es kein Platzverbot für Demos vor der Villa geben werde, wie man es etwa verhängt, damit Ballgäste in Ruhe zum Akademikerball gelangen können. Nur eine Schutzzone zwischen den beiden Kundgebungen wurde errichtet.

"Nazis raus"

Auf der anderen Seite des Häuserblocks haben sich nämlich ebenso laut, aber sehr bunt und mit deutlich zeitgenössischerer Musik antifaschistische, rote und grüne Gruppen zu einem Schutzwall für die Lesung zusammengefunden. Hier wird "Nazis raus" geschrien und später zwischen Regenbogenfahnen tanzend und hüpfend "We are Family" gesungen. Die Polizei hatte zwar versprochen, auch die Veranstaltung mit Freya van Kant zu schützen, doch die deutlich größere Gruppe als die der Rechten wollte auf Nummer sicher gehen.

Auf der Seite nahe der Pilgrambrücke standen rechtsradikale Aktivisten wie Martin Sellner, der Spendenempfänger des Christchurch-Attentäters, zahlreiche bekannte Maßnahmenkritiker von Corona-Demos und bekannte junge Rechtsextreme wie ein Mann, der den jüdischen Friedhof von Hohenems geschändet hat. Sie ereiferten sich über die "Transen-Propaganda". Auch zwei Hitlergrüße kamen auf der Demo zur Anzeige.

Martin Sellner und andere von Dragqueens Empörte.
Foto: APA/EVA MANHART

Rufschädigung

LGBTIQ-Personen wurden in Bausch und Bogen und rufschädigend als Pädophile verunglimpft. Auf der anderen Seite betritt am späten Vormittag der Sicherheitssprecher der Grünen im Parlament, Georg Bürstmayr, das Café in der Villa. Er sagt dem STANDARD, er finde es "bedauerlich, dass eine Kulturveranstaltung so einen massiven Polizeischutz" brauche, und sei "sehr überrascht, dass die Wiener Polizei als Behörde nicht ein Platzverbot verhängt hat, damit Eltern in aller Ruhe hier mit ihren Kindern her können". Wenigstens hätten die Beamten die beiden Gruppen deseskalierend auseinanderhalten können, so Bürstmayr. Zudem habe er Meldungen erhalten, "dass Menschen von der Presse nicht ungehindert ihre Arbeit machen konnten, auch das finde ich nicht unproblematisch", sagt der Jurist.

Auch DER STANDARD gehörte zu den Medien, die am Sonntag immer wieder an der Berichterstattung gehindert wurden. Zunächst, weil man gemeinsam mit anderen Reporterinnen und Journalisten, Fotografinnen und Kameraleuten etwa von Puls24 nicht durchgelassen wurde.

Mit aufgespannten Schirmen versuchten Rechtsextreme Medienleute abzudrängen.
Foto: Der Standard

Später wurden Fotografen und DER STANDARD von Rechtsextremen mit aufgespannten schwarzen Schirmen abgedrängt. Ein Polizeisprecher und eigene Medienkontaktbeamte, die danebenstanden, sagten, sie hätten dagegen keine rechtliche Handhabe.

Kritik wegen des Umgangs mit Pressefreiheit

Mit Videos von den Situationen konfrontiert, protestieren am Sonntag die Generalsekretärin des Presseclubs Concordia, Daniela Kraus, und der Präsident von Reporter ohne Grenzen Österreich, Fritz Hausjell: "Wie schon seit Beginn der Corona-Demos besteht hier ein Problem", so Kraus, "doch nun ist eine weitere Eskalationsstufe erreicht. Die Polizei sollte sich wieder auf ihre Aufgaben, zu denen auch der Schutz der Berichterstattung zählt, besinnen."

Hausjell spricht am Sonntag von "unhaltbaren Zuständen", die Polizei habe hier einen hohen Erklärungs- und vor allem Veränderungsbedarf. "Das sind Zustände, die einer liberalen Demokratie nicht würdig sind, wenn die ganz normale Berichterstattung von Demos so schlecht geschützt wird." Weiters konstatiert Hausjell ein "aggressives Angehen und Einschränken der Bewegungsfreiheit" der Medienleute.

Doch nicht nur Medienzugehörige wurden am Sonntag am Zugang zur Demo gehindert, während man neben ihnen für Teilnehmer der rechtsextremen Demo die Tretgitter freundlich öffnete. Auch Viktoria Spielmann, Wiener Landtagsabgeordnete der Grünen, erzählte in der Villa, man habe sie zuerst nicht weitergehen lassen, obwohl sie ihren Abgeordnetenausweis vorgezeigt habe.

"Frühsexualisierung"

Dominik Nepp von der FPÖ hatte die Kulturveranstaltung im Vorfeld als "ungustiöse Sexualisierungspropaganda" bezeichnet, seine Kollegin von der Wiener ÖVP, Landtagsabgeordnete Caroline Hungerländer, hatte von "Frühsexualisierung" gesprochen.

Freya van Kant liest aus einem Buch über eine Prinzessin, über die Weltmeere, Drachen und vieles mehr – aber nicht über Sex.
Foto: APA/EVA MANHART

Anwesend ist von ihnen niemand, als van Kant in großer roter Abendrobe nach elf Uhr im ersten Stock in zwei kleinen Räumen vor Kindern und Eltern zu lesen beginn. Sie erzählt die Geschichte einer Prinzessin, die gerne liest und den Erwachsenen Fragen stellt, wie jene nach dem größten der Weltmeere. Sie erzählt, wie die kleine Prinzessin einen großen Drachen austrickst. In der Geschichte, die die Kinder gespannt und amüsiert verfolgen, steckt viel drin, nur keine Sexualisierung. Um das herauszuhören, bräuchte man schon eine sehr lebhafte, um nicht zu sagen: komplett sexualisierte Fantasie.

Am Nachmittag, als beide Demos von der Wienzeile abgezogen sind, gehen kleinere Gruppen beider Seiten auf dem Ring weiter. Dabei kommt es noch zu einem Pfeffersprayeinsatz der Polizei gegen linke Demonstranten. "Eine Intervention der Rettung war aber nicht notwendig", so Markus Dittrich von der Landespolizeidirektion Wien auf Nachfrage. Auch weitere Anzeigen gab es nicht. In einer Aussendung der Polizei war später von sechs Personen die Rede, die "wegen des Verdachts des Widerstands gegen die Staatsgewalt" angezeigt wurden.

Zwei Personen aus der rechtsextremen Versammlung wurden laut Polizei nach dem Verbotsgesetz angezeigt, nachdem sie den Hitlergruß gezeigt hatten. (Colette M. Schmidt, 16.4.2023)