Im Gastblog analysiert Europapolitiker Hannes Swoboda den Faktor der Neutralität im Kontext des Krieges in der Ukraine.

Das Konzept der Neutralität ist heute sehr umstritten, jedenfalls in Europa. Finnland ist kürzlich der Nato beigetreten. Schweden hofft, dass Ungarn und die Türkei dem Beitritt bald zustimmen werden. Beide Staaten habe ihre Neutralität beziehungsweise Blockungebundenheit aufgegeben. Besonders in Österreich bewertet man das oft kritisch, allerdings übersehen die Kritiker und Kritikerinnen die besonderen geopolitischen Bedingungen der beiden nördlichen EU-Staaten. Finnland wurde neutral infolge des Friedensschlusses mit Russland, und Schweden hat schon seit längerem seine Neutralität in eine pragmatische Blockfreiheit umgewandelt.

Die russische Aggression gegen die Ukraine hat aber die sicherheitspolitischen Voraussetzungen – generell, aber besonders für diese beiden Länder – radikal verändert. Russland war nicht mehr ein stabiler Faktor, sondern wurde neuerlich zu einer Bedrohung für Staaten in seiner Nachbarschaft. Besonders Finnland hat im vergangenen Jahrhundert seine Erfahrungen mit einem aggressiven Russland gemacht. Die immer wieder auftauchende Aggression galt und gilt vor allem für Länder, die nicht von einem militärischen Bündnis Schutz und Unterstützung erwarten konnten.

Auch in einem neutralen Land wie Österreich sollte dem gewählten Vertreter des angegriffenen Staates Ukraine zugehört werden.
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Die österreichische Lage ist da anders. Auch unsere Neutralität ist eine, die nach einem Krieg beschlossen wurde und der Stabilität in Europa dienen sollte. Diese Stabilität nach 1945 war allerdings wesentlich durch das Patt zwischen dem Westen und dem durch Moskau unter Druck gehaltenen Osten definiert. Auf Jalta haben sich die Staatsmänner der Alliierten geeinigt, ohne auf den Willen der Bevölkerungen Rücksicht zu nehmen. Es war also keine durch die Völker freigewählte Stabilität. Man merkte das im Besonderen, als die sowjetische Regierung der tschechoslowakischen Regierung die Teilnahme am Marshall-Plan untersagte. Und die vielen von den Kommunisten organisierten Umstürze sowie die von der Sowjetunion angeführten militärischen Interventionen in Ungarn und der Tschechoslowakei haben die erzwungene Abhängigkeit von Moskau klar unter Beweis gestellt.

Die Veränderungen nach 1989/1990 haben dann eine neue Situation geschaffen. Die Völker des "Ostens" konnten plötzlich frei wählen. Sie strebten in die EU und unter den Sicherheitsschirm der Nato. Ihre Erfahrungen mit der Sowjetunion beziehungsweise Russland haben sie dazu gedrängt. Dieses Verlangen stieß allerdings auch auf das Bestreben der Nato, die neue Machtbalance in Europa abzusichern. Zuletzt war es dann der russische Präsident Putin, der die neuen Verhältnisse nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Nach kleineren Operationen an den Grenzen zu seinen Nachbarn – Moldau, Georgien und Ukraine – begann er einen umfassenden Angriffskrieg gegen das Nicht-Nato-Mitglied Ukraine. Putin überfiel ein Land, dem er das Recht auf Eigenständigkeit prinzipiell absprach. Der russische Präsident wollte und will das russische Imperium wieder erweitern, und das nicht durch Sicherheitsangebote, sondern mit brutaler Gewalt.

Engagierte und weitergelebte Neutralität

Die österreichische Neutralität war immer eine militärische und eine, die nie im Gegensatz zum international Engagement stand. Vor Anbeginn war klar, dass Österreich der Uno beitreten werde. Nach einigem Zögern wurde auch der Beitritt zur EU von der Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit gutgeheißen. In den entsprechenden Debatten wurde der Beitritt auch immer mit der umfassenden Sicherheit durch die EU-Mitgliedschaft begründet. Der Beitritt war auch ein eindeutiges Bekenntnis zu den für Europa besonders gültigen Werten, und viele österreichische EU-Abgeordnete engagierten sich bei der Erarbeitung des EU-Grundrechtskatalogs. Österreich sollte sich auch in Zukunft – und zwar eindeutig – für die Respektierung dieser Werte einsetzen. Sicher primär innerhalb der EU, aber auch global.

Schon gegen den völkerrechtswidrigen Angriff gegen den Irak wäre eine eindeutigere Haltung Österreichs zu erwarten gewesen. Auch wenn Saddam Hussein ein besonders grausamer Diktator war, der einseitige und durch Lügen begründete Einmarsch war nicht gerechtfertigt. Aber klar sollte sein, dass völkerrechtswidrige Handlungen mancher Staaten des Westens, insbesondere der USA, nicht die russische Aggression rechtfertigen können und den Westen nicht zum Schweigen verurteilen dürfen. Österreich sollte in allen Fällen seine Stimme erheben und den Angegriffenen helfen, soweit es möglich ist.

Der Angriff Russlands ist jedenfalls ein vielfältiger Aggressionsakt. Einerseits verletzt er die Souveränität eines Staates, aber auch die Prinzipien der Vereinten Nationen, und ist gegen universelle Werte und Prinzipien, die die EU in besonderem Maße vertritt, gerichtet. Eine solche völkerrechtswidrige und die europäische Sicherheit gefährdende Aggression muss zur Unterstützung des angegriffenen Staates führen. Österreich hat da richtig gehandelt. Es hat seine durch den Uno- und den EU-Beitritt politisch und wertemäßig bereicherte Neutralität genutzt, um sich eindeutig zu positionieren. Dabei musste es die militärische Neutralität, wie sie verfassungsrechtlich verankert ist, beachten.

Außenwahrnehmung und Rollen Österreichs

Hinzu kommt, dass die Neutralität in der Bevölkerung fest verankert ist und nicht einfach über Bord geworfen werden kann beziehungsweise sollte. Die Vereinbarkeit der militärischen Neutralität und der Hilfe für die Ukraine ist bisher gut umgesetzt worden. Aber man muss sich im Klaren sein, dass Österreich ein Teil des Westens und konkret der EU ist und auch von außen so gesehen wird. Das trifft sicher auch auf Russland zu. Man kann daher nicht erwarten, dass Russland, vor allem solange ein das Völkerrecht missachtender Präsident die Politik bestimmt, Österreich als unabhängigen Vermittler anerkennt.

Österreich ist keine Kriegspartei, aber es ist politisch und moralisch Partei in diesem Konflikt. In anderen Konflikten kann aber Österreich durchaus eine aktive Rolle spielen und sollte das auch tun. Und es ist zu hoffen, dass der Krieg gegen die Ukraine bald in einen Waffenstillstand übergeführt wird und dass im Rahmen von Friedenstruppen, welche die Uno und/oder die OSZE aufstellen, Österreich eine starke Rolle spielen kann.

Rolle für die neuen Neutralen

Global hat aber die Neutralität in ihren unterschiedlichen Formen nicht ausgedient. Zwar hat eine große Mehrheit der Uno-Mitglieder den russischen Angriff verurteilt. Aber viele Staaten haben die völkerrechtswidrigen Aktionen mancher westlicher Staaten nicht vergessen. Der Kolonialismus und Aggressionen wie die gegen den Irak haben sicherlich dazu beigetragen, dass manche Staaten sich nicht auf die Seite des Westens geschlagen haben. Das muss auch der Westen zur Kenntnis nehmen und sollte dabei auch eine Chance für eine neue Friedensordnung sehen. Diese neue Friedensordnung darf nicht mit zweierlei Maß messen und sollte alle Angriffskriege verurteilen und den Angegriffenen helfen.

Gerade die großen Länder des globalen Südens, die sich meist in den Uno-Abstimmungen zur Ukraine der Stimme enthalten haben, könnten eine entscheidende Rolle zur Erreichung eines Waffenstillstands spielen. Sie könnten vor allem unter Anwendung der Uno-Resolution "Uniting for Peace" von 1950 die Uno-Vollversammlung aktiv werden lassen, und das könnte und sollte auch Österreich unterstützen. Dabei sollten aber die inhaltlichen Aussagen der von der Uno beschlossenen Resolutionen die Grundlage der Friedensbemühungen sein.

Zum Handeln verpflichtet

Die Neutralität hat nicht prinzipiell ausgedient. Sie ist aber verschiedenen Einflüssen, vor allem solchen geopolitischer Art, ausgesetzt. Österreich hat sich durch den EU-Beitritt einer Wertegemeinschaft angeschlossen und sollte auch für diese Werte eintreten. Dazu gehört auch die Hilfe und Unterstützung derjenigen die einer völkerrechtsverletzenden Aggression ausgesetzt sind. Dennoch verurteilt die Neutralität unter Bedingungen der EU-Mitgliedschaft nicht zu einem Nichtstun.

So sollte Österreich alle friedenspolitischen Aktionen im Rahmen der Uno und der OSZE unterstützen. Diese dürfen aber den Angreifer und den Angegriffenen nie auf dieselbe Stufe stellen. Gegenüber Angriffskriegen darf es keine politische und moralische Neutralität geben. Das sollten auch jene Abgeordneten zum österreichischen Nationalrat verstehen, die sich weigerten, dem gewählten Vertreter des angegriffenen Staates Ukraine zuzuhören. Eine solche Verweigerung ist kein Beitrag zum Frieden, im Gegenteil. (Hannes Swoboda 19.4.2023)