Die Schlagzeile hatte einen Bezug zur Aktualität – gleichzeitig aber auch gehörigen Symbolcharakter: "Umgekippte Gewissheiten", so titelte letzthin das Schweizer Boulevardblatt "Sonntags-Blick" und beschrieb damit einen Zustand, in dem sich die Eidgenossenschaft seit einiger Zeit wiederfindet.

Die Schweizer Flagge vor dem Parlamentsgebäude in Bern. Neutral bleiben und sich aus allem heraushalten: Das funktioniert nicht mehr.
Foto: AFP/FABRICE COFFRINI

Schwere Sturmböen hatten in der Schweiz gleich zwei Nahverkehrszüge im wahrsten Wortsinn umgeweht und zum Entgleisen gebracht – es gab Verletzte, Sachschaden in Millionenhöhe. Dass ein so zuverlässiges und sicheres Verkehrsmittel wie ein Schweizer Eisenbahnzug einfach so aus den Gleisen gehoben werden kann, das erstaunte viele. Man rieb sich ungläubig die Augen.

Wie eine kleine Wagengarnitur im Sturmwind. So kommt sich dieser Tage auch die Schweiz als Nation vor. Gewissheiten sind in der Tat umgekippt – etwa jene, dass die 156 Jahre alte Großbank Credit Suisse (CS) solide und unerschütterlich sei; oder die Gewissheit, dass die neutrale Schweiz sich – wie so oft – einfach wegducken kann bei militärischen Konflikten, wie auch diesmal angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.

"Too big to fail"

Massiver Druck aus dem Ausland – namentlich aus den USA und aus Großbritannien – hat dazu geführt, dass die Schweiz, Hort finanzieller Sicherheit, die taumelnde Credit Suisse nicht einfach in Konkurs gehen lassen konnte. Die eidgenössische Gesetzeslage hätte das eigentlich so vorgesehen.

Stattdessen musste nach dem Motto "too big to fail" eine staatliche Rettung organisiert werden: Die Schweizer Großbank UBS, die zu den weltweit größten Vermögensverwaltern zählt, übernimmt die Credit Suisse, der Staat sichert Liquidität und Bürgschaften für mehr als 200 Milliarden Franken (rund 203 Milliarden Euro) zu.

Das auf Wirtschaftsberichterstattung spezialisierte US-Medienunternehmen Bloomberg und die britische "Financial Times" setzten die Schweizer Banker und Behörden mit immer neuen Insider-Informationen unter Zugzwang; Finanzministerin Karin Keller-Sutter wurde offensichtlich von ihren amerikanischen und britischen und Counterparts Janet Yellen und Jeremy Hunt bekniet, die CS rasch und um jeden Preis zu retten – im Interesse der internationalen Finanzstabilität.

Zugleich klein und größenwahnsinnig

Ob der riskante Deal auch im Interesse der Schweiz ist, wird sich erst weisen müssen; die Fusion könnte 30.000 Arbeitsplätze kosten und lässt einen neuen Bankgiganten entstehen – ein "Monster", wie die "Neue Zürcher Zeitung" schrieb, dessen Bilanzsumme doppelt so hoch ist wie die gesamte jährliche Schweizer Wirtschaftsleistung. Dieses Monster ist nun erst recht "very much too big to fail".

Das sieht auch das Schweizer Parlament so, das die Notfall-Milliardenkredite ablehnte. Ein folgenloser Protest: Die Regierung hatte sie bereits rechtskräftig beschlossen.

Die schiere Größe dieses Finanzgiganten im Verhältnis zu seinem doch überschaubaren Heimatstaat ist sinnbildlich: Die in ihrer Selbstwahrnehmung so kleine, bescheidene und harmlose Schweiz spielt auf vielen Gebieten eine ausgesprochen große und wichtige Rolle. Die Zürcher Investmentbanker der Credit Suisse wollten in größenwahnsinniger Manier mit der Konkurrenz von der Wall Street wetteifern – bis zum bitteren Ende.

Schweizer Neutralitätsdenken

Der Schweizer Finanzplatz spielt aber auch in Sachen Ukrainekrieg eine Rolle: Er gilt als weltweit größter Standort für die Offshore-Vermögensverwaltung. Auf Schweizer Konten sollen sich bis zu 200 Milliarden Dollar (rund 183 Milliarden Euro) an russischen Vermögenswerten befunden haben, bevor Moskau den Angriffskrieg gegen die Ukraine anzettelte.

Viele der in Genf und Zug ansässigen Rohstoffhändler wie Vitol oder Gunvor waren zu diesem Zeitpunkt weltweit führend beim Handel mit Erdöl, Erdgas, Gold und anderen Rohstoffen – natürlich auch aus Russland.

Das alles scheint sich jetzt zu rächen, die Geschäftsgrundlage bricht weg: selbstverschuldet bei der Credit Suisse, die ihr Risikomanagement nicht im Griff hatte und Milliarden abschreiben musste; aber auch aus äußerem Anlass, wie im Fall Russlands, denn auch die Schweiz musste die strengen Finanz- und Handelssanktionen der EU übernehmen.

Umgesetzt werden die Strafmaßnahmen aber nur halbherzig: Die Schweizer Behörden wissen weder, welche Rohstoffgeschäfte wie genau ablaufen, weil der Rohstoffplatz intransparent und kaum reguliert ist; noch wissen sie, welcher russische Oligarch seine Vermögenswerte in welchem Firmenkonstrukt versteckt hat: Ein Register der wirtschaftlich Berechtigten fehlt immer noch.

Neutral im Abseits

Deutlich mehr als ein Jahr nach Kriegsbeginn hat es die Schweizer Politik noch immer nicht geschafft, eine Taskforce aufzustellen, welche diesen Fragen nachgeht. "Sanktionen sind nur so stark wie der politische Wille dahinter", analysierte der US-amerikanische Botschafter in Bern, Scott Miller, unlängst in der "Neuen Zürcher Zeitung".

Die Schweiz habe zwar 7,75 Milliarden Franken an russischen Vermögenswerten blockiert – tatsächlich aber könnte sie 50 bis 100 Milliarden Franken zusätzlich einfrieren. Und dann müsse der Weg aber auch freigemacht werden, um diese Gelder tatsächlich auch zu konfiszieren und sie für den Wiederaufbau in der Ukraine einzusetzen. Eine internationale Taskforce sucht schon längst nach Wegen, um dies möglich zu machen. Die Schweizer Regierung in Bern solle hier mitmachen, forderte der US-Botschafter explizit.

Undiplomatisch deutlich richtete auch Michael Flügger, der deutsche Botschafter in Bern, den Eidgenossen und Eidgenossinnen aus: "Wir erwarten von der Schweiz, dass sie über ihren neutralistischen Schatten springt." Die Regierung müsse einwilligen zu indirekten Waffenlieferungen an die Ukraine und etwa Kampfpanzer nach Deutschland schicken, um die Bundeswehr zu unterstützen, die ihrerseits die Ukraine mit Leopard-Kampfpanzern ausrüstet.

Wer sich auf die Neutralität berufe und verhindere, dass der Angegriffene Waffen und Munition bekomme, der verhalte sich nicht neutral, sondern helfe dem Angreifer. "Die Russen greifen die europäische Sicherheitsordnung an, die internationale Ordnung und das humanitäre Recht. All dies ist doch auch für die Schweiz von Bedeutung", so der deutsche Botschafter.

"Sorgsam gepflegte Lebenslüge"

Das Ausland versteht die schweizerische Neutralität nicht mehr. Und die Schweizer und Schweizerinnen selbst? Von einer "sorgsam gepflegten Lebenslüge" schreibt der Sozialdemokrat Hans-Jürg Fehr in einem Essay für die Schweizerische Gesellschaft für Aussenpolitik: Die Lebenslüge vom neutralen Kleinstaat, der sich besser aus allem raushalte, weil er ja ohnehin zu klein und unbedeutend sei, um etwas ausrichten zu können – damit müsse es ein Ende haben, fordert Fehr: Gefragt sei Solidarität statt Neutralität.

"Ein Sturm rast auf die Schweiz zu", analysierte auch der Schweizer Nationalratsvizepräsident Eric Nussbaumer im "Tages-Anzeiger" nach einem USA-Besuch. Nicht einmal die befreundeten Abgeordneten aus der ältesten Demokratie der Welt scheinen die Schweizer Haltung nachvollziehen zu können.

Der Klimawandel verursacht Stürme, die Züge zum Entgleisen bringen können. Aber auch der geopolitische Sturm birgt Gefahren für die Schweiz: Sie muss sich entscheiden, welcher Seite sie sich zugehörig fühlt, wo sie tatsächlich noch in Sicherheit ist. (Klaus Bonanomi, 18.4.2023)